Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
herumging. Gwen war versucht zu schreien, doch sie riss sich zusammen. Eine Szene würde es nicht besser, sondern nur noch schlimmer machen.
Entgeistert sah sie dabei zu, wie Nikolaj vor ihrer Mutter zum Stehen kam, sich eine Tasse vom Tablett nahm und irgendetwas zu ihr sagte – was sie allerdings nicht hören konnte. Sie sah nur, wie das Gesicht ihrer Mutter erbleichte und das Tablett in ihren Händen leicht zu Zittern begann.
Mit der Tasse in der Hand machte Nikolaj einen gemächlichen Rundgang im Zimmer, währenddem er den anderen mit einem seltsamen Lächeln zunickte, ganz so, als ob er sie herausfordern wollte zu fragen, wer er war oder was er hier machte. Glücklicherweise war niemand so lebensmüde.
Es war der Schulfreund ihres Vaters, der ein paar Minuten später das Wort ergriff: „Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir uns auf den Weg zur Kirche machen.“ Möglicherweise verfolgte sein Hinweis noch eine zweite Absicht: Nikolajs Schauspiel auf friedlichem Wege ein Ende zu machen. Es blieben nämlich leicht noch fünf bis zehn Minuten, ehe sie aufbrechen hätten müssen. Doch auch die übrigen Anwesenden schienen sich dieser Aufforderung gerne zu fügen, murmelten ihre Zustimmung und erhoben sich von ihren Plätzen. Ein Poltern lief durch den Raum. Mäntel und Jacken wurden herumgereicht.
Gwen stand wie angewurzelt da. Ebenso ihre Mutter, die jedoch einen Augenblick später von ihrem Bruder am Arm gegriffen wurde, blinzelte, das Tablett abstellte und begann, sich ebenfalls zum Aufbruch bereitzumachen.
Nikolaj, nun einen schwarzen Mantel über seinem Anzug tragend, tauchte wieder neben ihr auf. In den Händen hielt er ihren kobaltblauen Mantel und forderte sie wortlos auf hineinzuschlüpfen.
Ein letztes Mal ging sie im Schnelldurchgang alle möglichen Optionen durch. Dann musste sie sich eingestehen, dass es keine bessere gab, als die, sich seinen Forderungen zu fügen und dafür zu sorgen, dass es eine friedliche Beisetzung ohne Störungen wurde. Eine Szene war das Letzte, was sie wollte. War das Letzte, was sie ihrer Mutter und den anderen aufbürden wollte.
Also ließ sie sich in den Mantel helfen, das Haar aus dem Kragen holen und an der Hand nehmen. Mit starkem Griff führte Nikolaj sie hinaus in den leichten Nieselregen, beugte sich zu ihr herüber und sagte bestimmend: „Du fährst mit mir.“
Sie legte keinen Widerspruch ein, wagte jedoch keinen Blick in Richtung ihrer Mutter, und ließ sich zu seinem Auto führen. Er war in einem schwarzen BMW gekommen, den er einige Meter entfernt vom Haus an der Straße geparkt hatte.
Er öffnete ihr die Beifahrertür.
Sie stieg wortlos ein.
Einen Moment später saß auch er im Auto. Und einen Sekundenbruchteil darauf, beugte er sich plötzlich zu ihr herüber, zog ihren Kopf zu sich und küsste sie. Überraschend sanft.
Erst, als das Pochen auf ihrem Handrücken einsetzte, wurde ihr bewusst, dass sie ihm gerade eine satte Ohrfeige verpasst hatte. Sie kniff die Lippen eng aufeinander und sagte mit bebender Stimme: „Bin ich dir wirklich so egal geworden, dass du mich noch mehr leiden sehen möchtest?“
Ein verwirrter Ausdruck stahl sich auf Nikolajs Gesicht. Gefolgt von einem bitteren und zornigen Zug. „Ein Kuss von mir verursacht dir also … Kummer?“
„Es ist nicht der Kuss, Nick. Es ist … Ein Kuss von dir wäre … womöglich das Einzige, was mich weniger in Kummer ertrinken lassen würde … Wenn …
du
… mich küssen würdest.“
Patzig erwiderte er: „Ich weiß nicht, ob dir das triste Raumklima der Trauergemeinde aufs Gemüt geschlagen und es dir deswegen entgangen ist, aber: ICH habe dich gerade geküsst, Gwen!“
Sie sagte es klar und deutlich. „Nein, das hast du nicht. Das warst nicht du.“
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Als ob du eine Ahnung hast, wer ich wirklich bin …“. Er sprach aufgebracht, dann wandte er den Blick von ihr ab und ließ den Motor an.
Seine Wortkargheit währte jedoch nicht lange. „Schnall dich an. Sicherlich kann keiner eine zweite Leiche brauchen. Das würde ein Lagerungsproblem verursachen.“
Ein spöttischer Laut entfloh ihrer Kehle, während sie sich den Gurt umlegte. Irgendwie verlief sich das zwischen ihnen zu einem Spiel. Einem Spiel, wer mehr austeilen und wer mehr einstecken konnte. „Weißt du was, Nick …? Mach so weiter und ich fange an …“
Er schnitt ihr das Wort ab. „Und was …? Du fängst an, mich zu hassen? Nur zu. Es heißt doch immer,
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