Wenn das der Führer wüßte
Gerümpel herum. Den schwulstig-schwülen Charakter der Deckenverzierungen konnte man in dem staubigen Dämmerlicht nur ahnen, sie wirkten wie Neugebilde. Sämtliche Stile eines Völkerkundemuseums schienen hier zu einer einzigen Scheußlichkeit zu verwachsen. Eine Art indischer Ornamentik herrschte vor, daneben gab es figürliches Zeug, das an Negerplastiken, an Byzanz, an die Idole der Osterinsel, an altslawische Ikonen, an die Steinmetzkunst der Azteken erinnerte.
Höllriegl, den niemand empfing oder anhielt, sah sich die krausen Bildwerke nicht ohne Beklemmung an. Aus den Schnitzereien sprach eine Inbrunst, die er als unreine Brunst empfand. Dieses Unmaß, diese Unrast, dieser Frevelmut des Geistes! Bestürzend auch die Sinnlosigkeit einer hemmungslosen Exhibition! In Höllriegl regte sich der Psycholog.
„Sie sind Alfred aus Berlin.“
Höllriegl drehte sich erschrocken um. Der Professor stand im Strahlenschutzanzug vor ihm und streckte ihm mit breitem Grinsen die Rechte hin. Flüchtiger Blick auf Höllriegls Uniform, ein genauerer auf den Kragenspiegel.
„Sind Sie RAD-Truppführer?“
„Ja, dem Range nach. Ich bin Heilgehilfe – Rutengänger.“
„Ah, stimmt. Der Lebensbaum. Unsere schönste Rune. – Ich sehe Sie vertieft … äh … in unsere Kuriositäten. Willkommen jedenfalls in Fausts Studierzimmer! Salamander soll glühen, Undene sich winden, Sylphe verschwinden und so fort. Kommen Sie!“
Sie kletterten eine knarrende Hühnerstiege hinan, und Gundlfinger sagte erläuternd: „Sie sind neu bei uns. Das Ganze hat der Hausmeister – er nannte sich Kastellan – des vorigen Besitzers geschnitzt. Ein Spinner, außerdem ein Kastrat. Sein Zeitvertreib war das Schnitzen. Das Schönste, was er machte, ist eine Wiege – für sein Kind, das er nie hätte zeugen können. Erst vor kurzem ist er hochbetagt in Privatpflege gestorben, es hat eine Menge Laufereien gekostet, ihn vor der Euthanasie zu bewahren. Da ist sein Bild.“
An der Wand hing eine gerahmte, vergilbte Fotografie. Sie zeigte einen sogenannten Charakterkopf mit Künstlermähne und über der Brust gekreuzten feinen Händen. Glasiger Blick aus vorgewölbten Augen.
„Bitte, mal rinn in die gute Stube.“ Auch in Gundlfingers Arbeitszimmer – das war es wohl – wimmelte es von geschnitzten Ungeheuerlichkeiten. Ein roh gezimmerter Tisch, wie man solche in Bauernstuben findet, nahm den meisten Platz ein. Bücher waren nicht zu sehen, dafür aber türmten sich überall, sogar auf dem Fußboden, Schriftstücke und Mappen. Seitlich an der Wand stand unter Glas ein abgestellter Fernschreiber. In einer Ecke grölte fröhlich wie ein Betrunkener das Radio.
Der Professor drehte die Marschmusik auf leise, so daß sie nur noch winselte, und bedeutete seinem Besucher mit malerischer Geste, sich ihm gegenüber zu setzen. Höllriegl nahm sich vor, so wenig wie möglich zu reden und lieber zuzuhören – ein Vorsatz, der sich bald als überflüssig erwies, denn Gundlfinger war sichtlich gewohnt, allein das Wort zu führen.
„Wissen Sie schon von der Katastrophe? Wieso nein? Na, heute gegen Morgen haben zwei weitere Rak-Geschosse des Banzai-Typs das Reichsgebiet getroffen. Eines explodierte im Allgäu, das zweite – leider eine Neutronenbombe – traf das Ostrauer Revier. Die FS-Meldung war nach Schlüssel Zwo-eins-Jot abgefaßt, leider aber so schwer verstümmelt, daß ich nichts Näheres herausbekommen konnte. Seitdem schweigt und schweigt mein Telex. Entweder ist die Leitung kaputt, oder – hm! In den zweiten Frühnachrichten haben sie die Treffer schon zugegeben. Es ist Dauerstrahlenalarm …“ (Davon hatte Schicketanz nichts gewußt.)
Gundlfinger schaltete am Fernschreibgerät herum. „Noch immer nix“, murmelte er.
„Der Treffer im Allgäu war von großer mechanischer Zerstörungskraft, so sagte der Geheimbericht. Die Neutronenbombe aber – – – der Anzug da ist gut für den Kostümball, nicht? In Sauckelruh sollen heute früh Flüchtlinge aus dem Lippischen durchgekommen sein. Sie sagen, Deutschland sieht nach dieser ersten Atomnacht aus wie am Ende des Dreißigjährigen Krieges, das wird wohl übertrieben sein. – – – Übrigens haben auch wir gewaltig zurückgeschlagen. Wenn Sie wollen, ein Trost. Es kommt jetzt – in den allernächsten Stunden – alles drauf an, daß das Gesetz des Handelns wieder bei uns liegt. In den ersten Frühnachrichten, also noch vor Bekanntgabe der Feindtreffer, wurde gesagt, der zweite massierte
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