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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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irgendeiner anderen – nicht zurechtfinden, selbst wenn sie vor ihr auf dieser Wiese stünde.
    »Hat es heute morgen irgendwelche Probleme gegeben?« fragte Rita und gab sich Mühe, keine besondere Betonung in die Frage zu legen. Sie blickte über die Wiese: Überall waren Lämmer, weiß wie Watte, und Mutterschafe leckten und leckten.
    »Nein.« Und dann, widerwillig, weil die Auseinandersetzung vertagt worden war: »Die da drüben hat Zwillinge gekriegt. Bei dem rötlichen Felsen. Siehst du?«
    »Hat sie –?«
    »Ja, sie hat beide abgeleckt.«
    »Und hast du –?« Es war immer gut, Zwillinge zusammenzubinden, damit das stärkere Lamm das schwächere zu den Zitzen der Mutter zog.
    »Ich lese, okay? Ich muss einen Aufsatz darüber schreiben. Aber das interessiert dich natürlich nicht.«
    »Okay, Schatz, okay«, sagte Rita. »Wir haben genug Zeit. Wir wollen ja nur nicht, dass sie getrennt werden.«
    Wie auf ein Stichwort schrie jenseits der Bäume hinter ihnen ein Rabe, und ein zweiter antwortete. Ein paar andere schwebten wie dunkles Gekritzel unter den Wolken, und etwa hundert Meter entfernt waren schwarze Flecken auf dem Boden, wo zwei der Vögel erfolglos versuchten, ein Mutterschaf von seinem Lamm wegzulocken. »Behalt die da drüben im Auge«, sagte sie und setzte sich auf. »Und sorg dafür, dass Bumper hierbleibt – er soll heute keine Herde zusammenhalten. Ich bin in« – sie drehte das Handgelenk und sah auf die Uhr – »ungefähr zwanzig Minuten wieder da. Und dann werde ich bis zum Abend hier herumgehen und auf die Lämmer aufpassen, und du kannst in dein Zimmer gehen und lesen oder machen, was du willst. Okay?«
    Die Augen ihrer Tochter reflektierten das Schimmern des Regens und waren so wandelbar wie Wasser in einem Brunnen: ein blasses, feines, durchscheinendes Grau, das ins Blau spielte, ganz anders als Tobys Augen oder ihre eigenen. Sie versuchte, sich die Augen ihrer Mutter vorzustellen, doch sosehr sie sich auch mühte, es gelang ihr nicht, Anises Gesicht mit jenem anderen zu überlagern. Sie schlang die Arme um die Knie, beugte sich vor und sah zu, wie ihre Tochter das Sandwich auspackte und prüfend daran roch. »Okay?« wiederholte sie.
    »Ja, okay , natürlich okay! Was soll ich denn noch sagen? Denkst du, ich bin ein dreijähriges Kind? Ich bin hier, okay? Und wenn einer von diesen verfluchten Vögeln auch nur in die Nähe kommt, mach ich Hackfleisch aus ihm.«
    Verfluchte Vögel. Hackfleisch aus ihm machen. Sie hörte Bax in diesen Worten und vielleicht auch Arturo, den jüngsten der Hirten, der erst einunddreißig war und sich mit einem rechten Bein, das aussah, als wäre es durch die Wäschemangel gedreht worden, vom Rodeo zurückgezogen hatte. Sie hörte es, und wieder fühlte sie sich schuldig, als hätte man in ihr einen Schalter umgelegt: Anise brauchte andere Jugendliche, Gleichaltrige, mit denen sie ins Kino gehen oder im Einkaufszentrum herumhängen konnte. Freundinnen. Vielleicht sogar einen Freund. Auf jeden Fall jemanden, von dem sie schwärmen konnte. Sie stand auf und duckte sich unter dem Rand der Plane hindurch hinaus in den Regen, der anscheinend etwas nachgelassen hatte. Oder bildete sie sich das nur ein?
    »Das ist gut, Schatz«, sagte sie und dachte, während sie das sagte, an den Schmerz, der in ihr aufbrechen würde, wenn Anise aufs Festland zurückkehrte, zu Toby oder zu Tobys Mutter in New York, die sie jeden Sommer für ein paar Wochen besuchte, sofern Toby daran dachte, ein Flugticket zu besorgen. Sie hatte sich bereits zum Haus gewandt, als sie sich noch einmal umdrehte. Der Hund sah erwartungsvoll zu ihr auf, Anise kaute ihr Sandwich und musterte sie argwöhnisch. »Und wenn du Hackfleisch aus ihnen machst«, sagte sie, während der Regen von der breiten Krempe des Sombreros tropfte, »dann tu mir den Gefallen und rupf ihnen vorher alle Federn aus.«
    An der Tür kam ihr Francisco entgegen. Er trug einen schweren Lederponcho über dem dicken Arbeitshemd und hatte eine ausgebleichte Baseballmütze aufgesetzt, auf der in einst gelben Buchstaben Trojan stand, ein Wort, bei dessen Anblick sie jedesmal an die Kondome dachte, die sie und Toby immer benutzt hatten, selbst wenn sie beide geglaubt hatten, sie müssten vor Verlangen schier platzen, die sie aber nicht davor bewahrt hatten, zum ungünstigsten Zeitpunkt schwanger zu werden. Zweimal. Das erstemal, als die Band (die Tobrita hieß – das war ihr Einfall: ihre beiden Namen auf immer miteinander verbunden,

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