Wenn der Acker brennt
und danach der Polizei erzählen, was ihr angesehener Bürgermeister getan hatte.
Als sie das Rauschen des Wasserfalls vernahm, das nun stetig lauter wurde, wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Der Bachlauf unterhalb des Falles würde ihr den Weg ins Dorf weisen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte die Klamm erreicht. Sie wollte schon über den Baumstamm auf die andere Seite balancieren, als sie Rimbar entdeckte. Er stand weiter oben neben dem Wasserfall, lehnte an einer mächtigen Buche und massierte seine Knie. Als er ein paar Schritte weiterging, bemerkte sie, dass er humpelte. Sie hatte keine Ahnung, ob er sie gesehen hatte oder nicht, aber eins war klar: Der Vorteil war auf ihrer Seite, denn sie war unverletzt.
Sie suchte in ihrer Jeanstasche nach einer Haarspange, drehte ihr Haar zu einem Knoten und befestigte es am Hinterkopf. Sie brauchte freie Sicht. Bewusst atmete sie ein und aus, dann richtete sie ihren Blick auf den Wasserfall und lief los. Die dicht stehenden Bäume und das verzweigte Gestrüpp, das bis an die Felsen der Klamm reichte, dienten ihr als Sichtschutz.
Schnell hatte sie den schmalen Vorsprung erreicht, über den das Wasser in die Tiefe stürzte. Sie schaute sich noch einmal um, konnte Rimbar aber nicht mehr entdecken. Erst als sie weiterging, flogen plötzlich ein paar Kieselsteine über sie hinweg. Dann sah sie ihn. Er rutschte den Hang neben dem Wasserfall hinunter, hielt sich an Ästen und Zweigen fest und beobachtete sie. Nur noch wenige Meter, und er würde bei ihr sein. Sie konnte schon den Triumph in seinen Augen erkennen.
»Vergiss es, du Bastard!«, schrie sie, trat auf die feuchten Felsen der Klamm und machte sich an den Abstieg.
Das aufspritzende Wasser und das Getöse des Falls hüllten sie ein. Rimbar würde ihr auf diesem Weg nicht folgen können. Sie rutschte ein paarmal aus, verfiel aber nicht in Panik und fand sofort wieder Halt. Ihr Wille, ihrem Verfolger zu entkommen und ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen, war größer als jede Angst.
Als sie das Auffangbecken erreichte, ließ sie sich ins Wasser fallen, schwamm ans Ufer und folgte dem Bachlauf weiter ins Tal. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich noch um, es hätte ihre Flucht nur verzögert. Sie musste sich nicht mehr vergewissern, wo Rimbar war. Sie wusste, dass sie schneller war als er. Die Äste und Zweige, die sie streiften, die Steine und Wurzeln, über die sie immer wieder kurz stolperte, nichts konnte sie mehr aus dem Tritt bringen. Sie empfand keine körperlichen Schmerzen, weil der Schmerz in ihrer Seele es nicht zuließ. Erst als sie die Straße erreichte und sie darauf hoffen konnte, bald auf andere Menschen zu treffen, die ihr halfen, löste sich der Schock, der sie in den letzten Stunden im Griff gehabt hatte. Trauer überflutete sie.
»Verzeih mir, Rick«, flüsterte sie, während die Tränen über ihre Wangen liefen. Ihre Suche nach der Vergangenheit hatte ihm und Georg Denninger das Leben gekostet.
Als ihr schwindlig wurde, setzte sie sich auf den nächsten Begrenzungsstein. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts getrunken und war körperlich an ihre Grenzen gegangen. Die Bäume, die Straße, das kleine rote Auto, das neben ihr anhielt, alles verschwamm vor ihren Augen, löste sich auf in einem Nebelschleier.
»Christine? Christine Weingard? Bitte, so sagen Sie doch etwas! Was ist denn mit Ihnen?«, hörte sie jemanden wie aus großer Ferne rufen.
»Leni?«, flüsterte sie, als sie die Stimme erkannte und kurz aufschaute.
»Kommen Sie, ich werde mich um Sie kümmern. Sie sehen arg mitgenommen aus«, stellte Leni besorgt fest und half Christine auf den Beifahrersitz des roten Twingo. »Ich bringe Sie zuerst ins Krankenhaus nach Sinach, bevor ich den Einkauf heimbringe. Ich war gerade für meine Mama in Garmisch im Supermarkt, deshalb bin ich hier vorbeigekommen«, plauderte das Mädchen munter drauflos, weil es hoffte, die Fotografin auf diese Weise wach zu halten.
»Du darfst niemandem sagen, dass du mich gesehen hast. Versprich es mir«, bat Christine. Wenn Rimbar herausfand, dass sie halb ohnmächtig und wehrlos irgendwo herumlag, würde das ihr Ende bedeuten.
»Ja doch, ich verspreche es.«
»Du musst …« Du musst die Bergwacht alarmieren, damit sie nach Rick suchen, hatte Christine eigentlich sagen wollen. Sie spürte auch, wie sich ihr Mund bewegte, aber die Worte brachte sie nicht mehr hervor. Dann wurde es dunkel.
»Frau Weingard!«, rief Leni. »Mei, jetzt
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