Wenn der Golem erwacht
Videotext musste ich manche Seite zweimal lesen, weil ich nicht ganz bei der Sache war. Immer wieder kreisten meine Gedanken um Max, und ich musste zugeben, dass ich mir Sorgen um sie machte.
Sorgen wegen der Typen, die Otto getötet hatten. Selbst wenn die drei die Schnauze voll hatten, würden andere kommen und Max das Leben schwer machen. Ein Grundstück wie dieses mitten in Berlin war ein erstklassiges Spekulationsobjekt. Da waren Millionen zu verdienen. In der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands waren Menschen für weitaus weniger eingesargt worden.
Und ich sorgte mich wegen des ›Jobs‹, mit dem Max die monatliche Miete aufzubringen versuchte. Die Bullen gestern Abend hatten sich austricksen lassen. Aber so etwas ging nicht immer gut. Es konnte mit dem Knast enden oder mit einer Kugel im Bein, vielleicht auch im Rücken.
Ich hatte Max nicht mal gefragt, wo sie heute auf Beutezug gehen wollte. War sie so leichtsinnig, es wieder am Brandenburger Tor zu versuchen? Hoffentlich nicht! Der gestrige Vorfall mochte die Polizei zu besonderer Wachsamkeit veranlassen.
Abermals nannte ich mich selbst einen Narren. Ich durfte keine zu tiefen Gefühle für Max hegen. Ich kannte sie kaum, und noch weniger kannte ich mich selbst. Dieses alte Theater war für uns beide nur ein Unterschlupf auf Zeit, und ich fühlte, dass der Zeitraum für mich wesentlich knapper bemessen war. Wenn ich mehr über mich herausfinden wollte, konnte ich nicht ewig bleiben. Ich musste etwas unternehmen, aber erst mal brauchte ich einen Plan.
Was ich bisher wusste, schien nicht für einen Plan auszureichen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach keinen klaren Kopf. Immer wieder stellte ich mir vor, dass Max in der Patsche steckte und auf meine Hilfe wartete.
Als ich gegen Mitternacht das typische Motorklopfen des Golfs hörte, schlug mein Herz schneller. Ich sprang auf und erwartete Max an der Wohnungstür. Zwischen dem Bartgestrüpp formten ihre Lippen ein Grinsen, und sie streckte mir beide Hände entgegen, in jeder eine teure Fotokamera. Ich nahm die Geräte und legte sie achtlos auf den Tisch, bevor ich Max in die Arme schloss, eng an mich drückte und küsste, immer wieder.
Atemlos fragte sie: »Stehst du auf Frauen mit Bart?«
8
A m nächsten Tag standen wir am Nachmittag auf. Wir waren zwar kurz nach Max' Rückkehr ins Bett gegangen, aber erst gegen Morgen erschöpft eingeschlafen. Wir gönnten uns einen ausgiebigen Spät-Brunch, und als die Dämmerung einsetzte, stiegen wir beide in den Golf.
Max spielte wieder den Bärtigen. Sie wollte heute im alten Osten auf Fischfang bei den Neureichen gehen, wie sie sich ausdrückte, und setzte mich am Schönhauser Tor ab. Ich betrat ein schlichtes mehrstöckiges Gebäude, dessen Erdgeschoss ein thailändisches Restaurant beherbergte. Die Stockwerke darüber waren an Arztpraxen und Bürogemeinschaften vermietet. Ich fuhr in dem engen Fahrstuhl bis unters Dach, wo sich das Chat-Inn eingenistet hatte, ein Internet-Café. Da Max über keinen Internetanschluss verfügte, wollte ich meine Recherchen hier in Angriff nehmen.
Ausgestattet mit einem Notizblock, einem Kugelschreiber und ein paar spärlichen Fakten in meinem lädierten und noch immer pochenden Schädel, ließ ich mich an einem freien Platz nieder. Als meine Finger zügig im Zehn-Finger-System über die Tastatur flogen, wusste ich, dass ich früher häufig am Computer gearbeitet hatte.
»Und?«, fragte Max gespannt, als ich ihr gegen elf mit müden Augen wieder gegenübersaß. »Hast du sonst noch etwas herausgefunden?«
Nach einem Blick auf die Junghans-Funkuhr und das brillantenbesetzte Goldarmband auf dem Tisch antwortete ich: »Leider war ich nicht im Mindesten so erfolgreich wie du. Ich habe alle möglichen Zeitungsarchive nach Vermisstenmeldungen im Zeitraum der letzten sechs Wochen abgesucht. Falls ich selbst darunter war, habe ich mich nicht erkannt.«
Max lehnte sich auf dem Sofa zurück und warf einen finsteren Blick auf den Fußboden vor sich. Dort hatte früher Otto gelegen und sie vermisste ihn. Mit einem kurzen Kopfschütteln klärte sie ihre Gedanken und forderte: »Weiter! Oder hast du sonst nichts recherchiert?«
»Nichts, was mir einen Hinweis gebracht hätte.«
»Hast du diesen seltsamen Arzt nicht gefunden, diesen Dr. Amade …«
»Ambeus«, verbesserte ich und setzte eine resignierte Miene auf. »Ich bin sämtliche Adressenverzeichnisse durchgegangen, die online zu finden sind. In Dresden gibt
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