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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Es war bestimmt eine Erinnerung! Nimm es als gutes Zeichen. Dein Gedächtnis kehrt Stück für Stück zurück.«
    »Du meinst, erst die Kindheit und dann der ganze Rest?«
    »Warum nicht?«
    »Ja, warum nicht«, wiederholte ich lahm und wenig überzeugt. »Was treibst du eigentlich so früh am Morgen mit dem Putzlappen?«
    »Früh am Morgen ist gut, gleich haben wir zwölf. Ich versuche die Schweinerei von heute Nacht wegzumachen, all das Blut.« Sie sprach leise und stockend, und vor ihrem geistigen Auge stand wohl das Bild des toten Hundes. Dann gab sie sich einen Ruck: »Dusch dich und zieh dich an! Ich mache inzwischen Frühstück.«
    Punkt zwölf saß ich am Tisch, vor dampfendem Kaffee, Bohnen, Würstchen, Rührei und Toast und vor einer Max, die sich frische Kleidung angezogen hatte: Eine bequeme schwarze Leinenhose und einen weißen Baumwollpulli.
    Ich blickte zu der kleinen Hi-Fi-Kompaktanlage, die zwischen Büchern und CDs auf einem Regal stand. »Kannst du Nachrichten einschalten? Am besten einen Lokalsender.«
    Sie schürzte die Lippen und wirkte ein wenig empört. »Interessieren dich Sport und Wetter mehr als eine Unterhaltung mit mir?«
    »Nein«, antwortete ich gedehnt. »Nicht Sport und Wetter. Aber entflohene Patienten mit Gedächtnislücken und eine nächtliche Verfolgungsjagd irgendwo in der Uckermark.«
    »In der Uckermark?«, fragte Max, während sie die Hi-Fi-Anlage anstellte.
    »Dort hat der Trucker mich aufgelesen. Habe ich das nicht erzählt?«
    Sie schüttelte den Kopf und suchte einen Sender. »Ich dachte, du hast keine Ahnung, wo diese komische Klinik ist.«
    »Habe ich auch nicht. Schließlich bin ich kreuz und quer durch den Wald gelaufen. Ich sah erst ein Ortsschild, als ich schon eine Weile bei Kurtchen in der Kabine saß. Wolfshagen. Dort sind wir auf die B 198 gefahren. Irgendwo südlich davon muss der alte Bau mit der Klinik stehen.«
    »In der Uckermark gibt es ausgedehnte Waldgebiete.«
    Ich nickte nur und lauschte auf die emotionslose Stimme der Nachrichtensprecherin, während Max sich wieder an den Tisch setzte. An der Ostküste der USA war ein voll besetztes Passagierflugzeug ins Meer gestürzt, ein leichtes Erdbeben in Griechenland und Erfolg versprechende Gespräche des deutschen Bundeskanzlers auf dem Pariser Wirtschaftsgipfel, dann kamen die Lokalmeldungen. Der Berliner Einzelhandel zog eine positive Bilanz des Sommergeschäfts. Eine Schlägerei zwischen jungen Türken und Neonazis in Wedding, Ergebnis: drei Leichtverletzte und zwei Mann auf der Intensivstation. Eine Expertenkommission hatte die Erforderlichkeit neuer Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe für Reperaturen am Olympiastadion festgestellt.
    »Und zum Abschluss noch eine gute Nachricht aus der Bauwirtschaft«, gönnte sich die Sprecherin einen Anflug von Optimismus in der Stimme. »Das neue Clay-Center am Tiergarten wird dieser Tage innerhalb des gesetzten Zeit- und Geldrahmens fertig gestellt. Laut Henning Larisch, Sprecher der Trägergesellschaft, wird die offizielle Einweihung wie vorgesehen in Anwesehenheit des Bundeskanzlers am Tag der deutschen Einheit stattfinden. Das Wetter …«
    »Nichts über unsere kleine Episode am Clay-Center«, übertönte Max die Tageshöchsttemperaturen. »Und auch nichts über einen entflohenen Irren in der Uckermark.«
    »Besten Dank für die Blumen.« Ich schob mit dem Messer die letzten Bohnen auf die Gabel und steckte die lauwarme Fracht in meinen Mund.
    Max betrachtete mich forschend. »Freust du dich, oder bist du enttäuscht?«
    »Darüber denke ich gerade selber nach. Eine offizielle Suchmeldung würde mir vielleicht helfen, meine Identität herauszufinden. Aber das heruntergekommene Gebäude und die schwer bewaffneten Gorillas lassen nicht darauf schließen, dass ich aus einer staatlich anerkannten Anstalt entwichen bin.«
    »Ich würde eher auf das Gegenteil tippen. Vielleicht solltest du dich doch an die Bullen wenden.« Sie kicherte. »Dass ausgerechnet ich das sage!«
    »Würde ich tun, wenn ich wüsste, dass sie mich nicht festhalten.«
    »Denkst du dabei an die Männer, die du vorletzte Nacht erschossen hast?«
    »Ja«, sagte ich nur die halbe Wahrheit. Denn ich dachte auch an das Traumbild, an die vielen Toten in einem Meer aus Blut, Männer und Frauen.
    Wir fuhren mit dem Golf zum Einkaufen. Das Wetter war sehr durchwachsen und ich hatte mir eine schwarze Lederjacke übergestreift. An passenden Kleidern

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