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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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ihre Augen. »Das kann ich jederzeit beeiden!«
    »Aber der Wächter?«
    »Wahrscheinlich ein Scherzkeks.«
    »In der Minute seines Todes?«
    Max zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war deine Identität den Wachen ebenso unbekannt wie dir selbst. Irgendwie mussten sie dich nennen. Warum nicht Golem?«
    »Warum nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist die falsche Frage. Die richtige muss lauten: Warum?«
    »Zieh dich an, wir müssen los!«, schreckte Max mich am folgenden Nachmittag aus meinen Gedanken, die noch immer um den Golem kreisten.
    Ich saß vor meinen ausgebreiteten Notizen und einer Dose Bier am Tisch und versuchte vergeblich, eine Verbindung zwischen der Golem-Sage und mir herzustellen. Alles blieb Spekulation, rätselhaft wie der Ursprung der Legenden um das Geschöpf aus Lehm.
    »Wohin müssen wir?«, fragte ich und stellte jetzt erst fest, dass Max wieder den falschen Bart trug.
    »Ich muss Geld verdienen und du weiter im Internet recherchieren. Das habe ich jedenfalls angenommen.«
    »Heute nicht, ich bleibe hier.«
    »Bist du sicher?«, fragte Max.
    »Absolut. Ich muss in Ruhe überlegen. Vielleicht ist diese Golemgeschichte doch nicht so unbedeutend, wie du meinst. Möglich, dass sie irgendeinen verborgenen Hinweis enthält.«
    »Denk daran, Grübeln macht Kopfweh«, sagte sie und verabschiedete sich mit einem Kuss.
    Draußen und auch in der Wohnung wurde es dunkler, während ich grübelte, Kopfschmerzen hatte und doch nicht weiterkam. Natürlich war ich kein Geschöpf aus Lehm, dem durch ein magisches Ritual Leben eingehaucht worden war. Wie Max gesagt hatte, ich bestand aus Fleisch und Blut. Aber waren Sagen und Legenden wörtlich zu nehmen? Wohl kaum. Die Geschichte des Golems war als Gleichnis zu verstehen, das hatte ich auch in mehreren Internet-Beiträgen gelesen. Als Gleichnis für das Streben des Menschen nach Vervollkommnung, nach Göttlichkeit. Zugleich aber verköperte der Golem den Mensch als Wesen ohne Seele und ohne geistige Kraft. Ich starrte auf den Zettel, auf dem ich mir Erklärungen für das Wort ›Golem‹ notiert hatte:
    – etwas Unfertiges, ein Rohstück, das noch zu seiner vollende ten Gestalt gelangen muss
    – hebräisch für ›seelenlose Materie‹
    – Erdkeim, ungestaltetes Klümpchen
    – ein der Seele beraubter menschlicher Körper
    War es das? War ich das? Ein Mensch, dem man die Seele geraubt hatte?
    Warum? Hatte man mich zu einem seelenlosen Klumpen Fleisch degradiert, um etwas anderes aus mir zu formen? War ich der Keim, aus dem etwas anderes, etwas Neues, erwachsen sollte?
    Die Fragen stürmten auf mich ein und ließen meine Gedanken rotieren. Für einen Augenblick glaubte ich mich der Lösung nahe, sah ich so etwas wie ein fernes Licht im Dunkel meiner Erinnerung. Aber der Kopfschmerz gewann die Oberhand und verhinderte jede klare Überlegung, zersprengte mit seinen Hammerschlägen die Kausalkette, die sich bilden wollte. Mir war übel, ich fühlte mich müde und erschöpft.
    Im Durchgang zum Bad hing ein Medizinschrank, wo ich ein paar koffeinhaltige Schmerzkapseln mit längst abgelaufenem Haltbarkeitsdatum fand. Ich drückte eine der weißen Kapseln aus der Blisterpackung, steckte sie in den Mund und spülte sie mit einem großen Schluck Leitungswasser hinunter.
    Mit der Fernbedienung stellte ich den Fernseher an, sprang von Kanal zu Kanal, bis ich bei einem lokalen Infotainment-Magazin hängen blieb. Der Beitrag über die Berliner Raverszene interessierte mich nicht die Bohne. Mein Daumen glitt über die Fernbedienung, und ich drückte den Ton weg. Die zappelnden Typen auf der schummrigen Tanzfläche wirkten jetzt wie in einem nachkolorierten Stummfilm.
    Tief in den Sessel zurückgelehnt, wartete ich darauf, dass der Schmerz endlich nachließ. Ich leerte die Bier dose, schloss die Augen halb und versuchte, mich zu entspannen. Durch die fast zugeklappten Lider sah ich die Fernsehbilder wie durch einen dünnen Schleier.
    Endlich verschwanden die nervigen Raver, und eine blond gelockte Moderatorin lächelte mit vollen kirschroten Lippen und unnatürlich weißen Zähnen in die Kamera. Der Ton war noch ausgeschaltet, was ihre Lippenbewegungen wie verbale Lockerungsübungen aussehen ließ. Ich überlegte, ob ich sie von der Mattscheibe zappen sollte, als das Bild abermals wechselte. Ein Foto füllte den ganzen Bildschirm aus, das Bild eines in merkwürdiger Haltung zwischen umgestürzten Möbeln am Boden liegenden Mannes. Er war blutbeschmiert und tot. Das

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