Wenn der Golem erwacht
erkannte ich, ohne den Ton zu hören. Der starre Blick des Mannes war selbst auf dem Foto gut zu sehen. Der Anblick ließ mich jeden Schmerz und jede Erschöpfung vergessen. Ich schnellte nach vorn und griff nach der Fernbedieung.
Der korpulente Mann auf dem Foto war mein hilfsbereiter Trucker, Kurtchen!
Das Foto verschwand zugunsten von Filmaufnahmen. Die Kamera zoomte ein tristes graues Hochhaus heran.
Endlich fand ich den Tonknopf, und eine schneidige Männerstimme verkündete: »… Leichnam des achtundreißigjährigen Fernfahrers Kurt-Peter Schöller heute Nachmittag im sechsten Stock dieses Hauses in Reinickendorf. Der unverheiratete Schöller bewohnte hier ein bescheidenes Einzimmerapartment. Er wurde von der Putzfrau aufgefunden, die einen Schlüssel für das Apartment besitzt. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand der Polizei wurde der Fernfahrer vermutlich am Morgen in seiner Wohnung durch zahlreiche Messerstiche getötet. Schnittwunden überall an der Leiche weisen darauf hin, dass Schöller zuvor von dem unbekannten Täter – oder von den Tätern – gequält wurde. Ein Motiv für den grausamen Mord ist bislang nicht ersichtlich, das Fehlen von Geld oder Wertgegenständen konnte nicht festgestellt werden. Die Polizei bittet insbesondere die Bevölkerung in der unmittelbaren Nachbarschaft um ihre Mithilfe.«
Die Studiokameras zeigten wieder den lächelnden Blondschopf: »Und jezt zu einem angenehmeren Thema, dem Piercing. Zu Gast im Studio haben wir …«
Ich schaltete den Ton wieder aus, ließ mich zurücksinken und atmete tief durch. Obwohl ich den Trucker nur für wenige Stunden gekannt hatte, nahm sein Tod mich mit. Kurtchen war nach meiner Einschätzung okay gewesen, hilfsbereit und aufgeschlossen, aber nicht zudringlich. Doch weder sein Tod noch die grausamen Todesumstände waren verantwortlich für das flaue Gefühl, das ich in der Magengegend spürte. Auslöser meiner Erschütterung war der Gedanke, dass der Mord etwas mit mir zu tun haben konnte. War ich das fehlende Motiv? War Kurtchen gequält worden, um ihn zu einer Aussage über mich zu veranlassen?
Aber er konnte nichts Wichtiges erzählt haben. Er hatte keine Ahnung gehabt, wohin ich mich gewandt hatte, nachdem er mich in Reinickendorf abgesetzt hatte.
Ein anderer Gedanke beherrschte mich: Wenn Kurtchen von Dr. Ambeus und seinen Komplizen ermordet worden war, wie waren sie ihm auf die Spur gekommen? In der Nacht meiner Flucht konnten sie unmöglich mitbekommen haben, dass der Trucker mich an Bord nahm. Angesichts der Ungehemmtheit, mit der meine Verfolger von der Waffe Gebrauch machten, hätten sie schwerlich gezögert, den Truck zu stoppen.
Aber wie war Kurtchen ihnen dann ins Netz geraten? Es gab nur eine logische Antwort, und die war für mich noch erschreckender als der Tod des Fernfahrers. Ich wollte es nicht wahrhaben und suchte verzweifelt nach einer anderen Lösung. Doch es gab nur einen Menschen, dem ich von Kurtchen erzählt hatte: Max!
Ich stemmte mich aus dem Sessel und lief nach draußen, um meinem plötzlichen Verlangen nach frischer Luft nachzugeben. Vor dem Eingang setzte ich mich auf eine alte Plastikkiste, die hier vor sich hin gammelte. Ich stützte die Hände auf die Knie und atmtete hastig, wie ein Ertrinkender.
Die Abenddämmerung hatte sich längst über Berlin gesenkt und der Stadt ihre düstere Maske übergestülpt. Das erinnerte mich an Max und ihre Verwandlungskunst. Am Abend unserer ersten Begegnung hatte sie mich perfekt getäuscht. Ich hätte einen Eid darauf geleistet, dass Max ein Mann war. Beschränkte sich ihre Fähigkeit zur Verstellung nicht auf das Äußerliche? Konnte sie ebenso gut ihre Gedanken und Gefühle maskieren und mir Zuneigung vorheucheln, während sie mich heimlich an meine Feinde verriet?
Nach einem Grund für diesen Verrat brauchte ich nicht lange zu suchen. Zum Erhalt des Theaters benötigte Max Geld, eine Menge Geld. Und bei dem Aufwand, den Ambeus und seine Helfer betrieben hatten, um mich zu täuschen und festzuhalten, war klar, dass sie nicht zu den Ärmsten im Land gehörten.
Es passte zusammen, aber noch ergab es längst kein vollständiges Bild. Die Nachricht von Kurtchens Ermordung warf mehr Fragen auf, als ich beantworten konnte. Fast war ich froh darüber, denn Fragen bedeuteten Zweifel, und Zweifel erlaubten zumindest die Möglichkeit, dass ich Max zu Unrecht verdächtigte.
Frage eins: Wie hatte Max Ambeus ausfindig gemacht und Verbindung zu ihm aufgenommen? Ich
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