Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
Ich wollte nicht, dass ihr etwas zustieß, ganz gleich, ob sie ein falsches Spiel mit mir getrieben hatte oder nicht.
    Eine Nachricht hatte ich ihr nicht hinterlassen, zu ihrem Schutz und auch zu meinem. Aus diesen beiden Gründen würde ich auch nicht zu ihr zurückkehren. Mein Herz zog sich bei diesem Gedanken zusammen, aber mein Verstand sagte mir, dass ich richtig handelte. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass jeder Gedanke an eine längere Bindung nur eine Illusion war.
    U-Bahnhof Potsdamer Platz. Ich verließ den Zug und tauchte in das Gewühl der weitläufigen unterirdischen Anlage ein. Allzu große Hast vermied ich, um nicht den Schwarzen Sheriffs aufzufallen, die hier in Doppelstreifen patrouillierten. Rolltreppen beförderten mich nach oben, und ich trat ins Freie, wo die Menschen sich nicht weniger drängten als unten in der Station. Vom Marlene-Dietrich-Platz ergoss sich eine Flutwelle aus schwatzenden Leuten in die Daimler-City, offenbar war die Premierenvorstellung gerade zu Ende. Auch das Multiplex-Kino spuckte ganze Heerscharen aus. Dunkle Anzüge und elegante Roben vermischten sich mit Jeans und Freizeitjacken. Vor den Restaurants bildeten sich Schlangen. Die Schluchten zwischen den glatten Hochhäusern, die man in den letzten Jahren hochgezogen hatte, schienen zu eng für die immer noch anschwellende Menge. Nur allmählich floß ein Teil davon in den Untergrundbereich der U-Bahn und der Tiefgarage ab oder schwappte nach Südosten, um in den lang gestreckten Bau der Parkkolonnaden einzusickern.
    Ich wandte dem überfüllten Marlene-Dietrich-Platz den Rücken zu und ging in Richtung Tiergarten. Vor mir ragte das von Glas und Stahl beherrschte Konglomerat des Sony-Centers empor. Im künstlichen Licht zahlreicher Scheinwerfer glich es einer futuristischen Stadt. Dahinter, an der südöstlichen Ecke des Tiergartens bestimmten Kräne und Baucontainer das Bild, als wollte der Potsdamer Platz seinen langjährigen Ruf als größte Baustelle Europas mit Macht verteidigen. Die in dieser Ecke entstehenden Gebäude waren erst zu einem kleinen Teil fertig gestellt. Am beeindruckendsten von allen Bauwerken auf dem Areal war der freistehende Turm, dessen nach Osten und Westen weisende Kopfflügel ihm das unverwechselbare Aussehen wie ein T verliehen. Auf dem Dach drehte sich das stilisierte INTEC-Zeichen und blitzte in leuchtendem Blau weithin sichtbar durch den Nachthimmel.
    Am Klempererplatz blieb ich stehen und starrte zu dem Büround Wohnturm hinüber. Ein kleines Apartment dort war bestimmt nicht unter einer Monatsmiete von zehntausend Mark zu kriegen, falls es im Tower überhaupt kleine Wohnungen gab. Der INTEC-Konzern hatte ordentlich geklotzt, um dem beeindruckenden Sony-Center in der unmittelbaren Nachbarschaft Paroli zu bieten. Absichtlich überragte der INTEC-Tower das glasfunkelnde Halbrund des Sony-Turms um mindestens zwanzig Meter.
    Das alles fiel mir ein, während ich das mächtige T betrachtete. Ich fragte mich, warum ich nicht schon früher daran gedacht hatte. War ich zu aufgeregt gewesen, als mir dort drüben im Tiergarten vor dem Clay-Center kurzzeitig das Bild des INTEC-Towers erschien? Das konnte es nicht allein sein.
    Das Gebäude, das seine Kopfflügel wie die Arme eines Riesen über die Stadt ausstreckte, musste in einem Zusammenhang mit meinen verlorenen Erinnerungen stehen. Anders war die Vision am Clay-Center und das Auftauchen des Towers in meinem Albtraum nicht zu erklären. Mein Unterbewusstsein, wo sich ein Rest der verschollenen Erinnerungen vergraben hatte, wollte mir durch das Bild des INTEC-Gebäudes etwas mitteilen. Aber was?
    Ein klickendes Geräusch, wie von einem Feuerzeug, störte meine Überlegungen. Ich drehte mich um und sah zehn Meter hinter mir einen mittelgroßen, breitschultrigen Mann am Rand des Sony-Centers stehen. Er wandte sich von mir ab und betrachtete eine große Schautafel.
    Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig. Mit seiner Lederjacke und der dunklen Hose war er ähnlich gekleidet wie ich. Weder in seinen Händen noch in seinem Mund konnte ich eine Zigarette entdecken, woraus ich schloss, dass ich mich mit dem Feuerzeug geirrt hatte. Vielleicht war das Geräusch gar nicht von ihm ausgegangen, sondern von einem der Fahrzeuge auf der Tier gar tens traße.
    Gerade fuhr ein wuchtiger Mercedes an dem Mann vorbei, und für einen Augenblick tauchten die Scheinwerfer ihn in gleißendes Licht. Es genügte mir, um das Mal auf seiner linken Wange zu bemerken, feuerrot und

Weitere Kostenlose Bücher