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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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hatte keine Ahnung. Aber ich dachte an ihre abendlichen Ausflüge und daran, dass sie nicht allein dazu dienen mochten, arglose Touristen zu berauben. Erstattete Max jeden Abend Dr. Ambeus über mich Bericht? Waren wir uns vielleicht gar nicht zufällig begegnet? War Max auf mich angesetzt worden? Aber ich war ihr gefolgt, nicht sie mir!
    Frage zwei: Wenn Ambeus Bescheid wusste, weshalb ließ er mich in Ruhe und vergriff sich an Kurtchen? Wollte er dadurch einen unliebsamen Zeugen beseitigen? Doch dann wäre es unnötig gewesen, den Trucker zu foltern. Und wer immer Kurtchen auf dem Gewissen hatte, er musste davon ausgehen, dass der Mord mich warnte.
    Es schien doch nicht ganz zusammenzupassen. Aber als ich zurück ins Haus ging, war ich noch längst nicht beruhigt. Falls Max es ehrlich mit mir meinte, brachte meine Anwesenheit sie in große Gefahr. Und je länger ich hier blieb, desto größer wurde die Bedrohung für sie.
    Das flaue Gefühl in meiner Magengegend wollte nicht verschwinden. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich seit vielen Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ich legte zwei Scheiben Schinken zwischen zwei Brotscheiben, biss herzhaft hinein und kehrte kauend ins Wohnzimmer zurück. Was ich dort auf dem Fernsehschirm sah, ließ mich alles andere vergessen.
    Ungläubig starrte ich auf das Bild, das meinen wiederkehrenden Albtraum beschwor. Was ich sah, konnte ich kaum glauben. Doch es war Realität.
    Und endlich wusste ich, wo ich mit meiner Suche nach den Ereignissen, über die meine Erinnerung den Mantel des Vergessens geworfen hatte, beginnen musste.

 

    9
    A ls ich am Alexanderplatz die U-Bahn verließ, um in die Linie 2 umzusteigen, war ich noch immer wie im Rausch. Eins der bekanntesten neuen Gebäude Berlins, und ich hatte mich nicht daran erinnert! Warum nicht? Dabei existierte es schon viel länger als die vier bis fünf Wochen meiner Amnesie.
    Die 2 fuhr gerade ein und spuckte eine Menge Leute aus. Ich schwamm gegen den Strom und gebrauchte die Ellbogen, wollte die Bahn unter keinen Umständen verpassen. Zwar kam in wenigen Minuten die nächste, und eigentlich war es egal, ob ich den Potsdamer Platz etwas früher oder später erreichte, aber meine starke innere Erregung ließ mich jede Verzögerung wie einen körperlichen Schmerz empfinden. Am Potsdamer Platz stand das Gebäude aus meinem Traum. Dort hoffte ich die Spur zu finden, die direkt ins Dunkel meiner Erinnerung führte.
    Zischend schlossen sich die Türen hinter mir, und die Bahn setzte sich in Bewegung. Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und starrte durch die schmierigen Scheiben hinaus auf den vorbeihuschenden Bahnhof. Anzeigetafeln und Menschen verschwammen zu einem unscharfen Bild, doch das nahm ich nur unterbewusst wahr. Ich dachte an meinen Albtraum, aus dem mich der nächtliche Besuch der drei Galgenvögel gerissen hatte. Ich sah mich wieder durch das Blutmeer schwimmen und über mir tauchte der längliche Schatten mit der breiten Schwanzflosse auf, den ich für einen Hai oder ein U-Boot gehalten hatte.
    Jetzt wusste ich es besser. Es war ein Gebäude, das ich im Traum in der Horizontalen gesehen hatte. In der vergangenen Nacht hatte ich wieder von diesem schattenhaften Hindernis geträumt, ohne es deutlicher zu erkennen. Aber im Tiergarten hatte ich es vor meinem inneren Auge gesehen, nur ganz kurz, als sich die Erinnerung daran vor das Bild des Clay-Centers schob. Ein turmartiges Gebäude, das oben in einer Verbreiterung endete, die es wie ein gigantisches T wirken ließ.
    Der INTEC-Tower!
    Ich hatte ihn erst im Fernsehen erkannt. Es war ein Bericht über eine glanzvolle Premiere gewesen, die im Musical-Theater am Marlene-Dietrich-Platz gefeiert wurde. Ein Kameraschwenk über den gesamten Potsdamer Platz hatte den Turm ins Bild gerückt, nur für ein, zwei Sekunden, aber es hatte genügt. Ich wusste nicht, was das Gebäude mit mir zu tun hatte, aber eins war mir klar: Es gab einen Zusammenhang!
    Keine zehn Minuten später war ich zum nächsten U-Bahnhof aufgebrochen. Ich hatte nicht einmal den Fernseher ausgeschaltet. Bei mir trug ich nur etwas Geld, das ich von Max erhalten hatte, meine Notizen aus dem Chat-Inn und den Smith & Wesson. Der kompakte Revolver mit den fünf restlichen Patronen steckte in einer Innentasche meiner Lederjacke.
    Die SIG-Sauer P230 hatte ich für Max zurückgelassen. Zum Schutz gegen einen erneuten Überfall. Otto war nicht mehr da, um sie zu warnen und zu beschützen. Und ich auch nicht.

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