Wenn der Golem erwacht
Parkplatz.«
»Kenne ich«, sagte Rica. »Wo sie den Touristen Würstchen und Eis verkaufen.«
»Exakt. Da parkst du heute Nachmittag um vier. Von dort gehst du zum Ruinenberg.«
»Und dann?«
»Ich melde mich. Und dein Kollege, dieser Sallmann, soll das Maul halten!«
»Wird nicht leicht werden. Er ist …«
Klack.
Rica sprach in eine tote Leitung.
Es war Ende September und ein Wetter wie im April. Kurze, heftige Schauer prasselten auf Potsdam herunter. Der Wind trieb die dunklen Wolkenbänke weiter, und bald darauf fielen wärmende Sonnenstrahlen auf den noch nassen Boden. Die Grasflächen von Sanssouci dampften, und die Touristen streiften die Regenjacken ab, unter denen viele kurze Hosen und T-Shirts trugen.
Sonnenbrillen wurden aufgesetzt und Schirme zusammengefaltet, als der grüne Opel Agila auf den Parkplatz rollte. Der kleine Fünf türer hielt zwischen einem Beetle und einer Astra-Limousine. Die Fahrerin stieg aus, kniff die Augen zum Schutz gegen die blendende Sonne zusammen und sah sich suchend um. Zweimal drehte sie sich im Kreis und betrachtete Fahrzeuge, Menschen und Verkaufsbuden, bevor sie die große Umhängetasche von der Rückbank nahm, den Wagen abschloss und eine Sonnenbrille aus einer Tasche ihrer ausgebleichten Jeansjacke zog.
Die meisten Touristen wandten sich vom Parkplatz aus in südöstlicher Richtung, wo Schloss Sanssouci lag. Rica Aden aber ging nach einem kurzen Blick auf eine zerknitterte Faltkarte am Besucherzentrum vorbei nach Norden und beschritt einen schmalen Waldweg. Sie stieß einen leisen Fluch aus, als ihre hellen Freizeitschuhe im Matsch einsanken. Dunkle Flecke verunzierten das helle Leder.
Sie überquerte die Bornstedter Straße, die zum gleichnamigen See führte, und erstieg die sanfte Anhöhe des Ruinenbergs, dessen Name ein wenig hochtrabend war. Eigentlich handelte es sich um einen begrünten Hügel, auf dessen Kuppe sich die Nachbauten antiker Ruinen und Säulen erhoben. Rica begegnete einem älteren Mann, der von den Ruinen herunterkam und hin und wieder stehen blieb, um die Anlage aus einem anderen Blickwinkel zu fotografieren. Auch sie selbst hielt mehrmals an und tat, als genieße sie die Aussicht. In Wahrheit sah sie sich nach möglichen Verfolgern um.
Kurz vor der Hügelkuppe wurde sie von einem Rascheln im Gebüsch erschreckt. Eine Gestalt sprang hinter ihr auf den Weg und umschlang ihren Hals mit dem linken Arm. Gleichzeitig bohrte sich etwas Hartes in ihren Rücken.
Mein heißer Atem schlug ihr in den Nacken. »Wehr dich nicht, Rica, sonst schieße ich!«
Widerstandslos ließ sie sich ins Unterholz ziehen, ohne dass ich meinen Griff lockerte.
»Hast du die Waffe?«
Sie brachte ein krächzendes »Ja« hervor.
»Wo?«
»In der Tasche.«
Ich ließ das rostige Rohrstück fallen, das ich Rica in den Rücken gepresst hatte, riss die Tasche von ihrer Schulter und öffnete sie. Sofort erkannte ich die schwarzen Umrisse einer Automatik nebst drei Ersatzmagazinen. Ich griff nach der Waffe, die ungewöhnlich klein war. Eine sowjetische PSM, in den Achtzigerjahren von der DDR als Offizierswaffe für NVA und Volkspolizei angeschafft.
In einer fließenden Bewegung lud ich die zierliche Pistole durch und entsicherte sie, die Mündung zeigte auf Rica.
»Bist du verrückt?«, fuhr sie mich an.
»Wie kann ich das wissen? Jedenfalls bin ich vorsichtig. Falls du Kranz und seinen Schützenverein mitgebracht hast, kriegst du die erste Kugel ab. Und denk gar nicht erst daran, ein paar erholsame Tage im Krankenhaus zu riskieren. Die unscheinbaren kleinen Patronen in diesem Ding haben eine hohe Durchschlagskraft. Aus nächster Nähe abgeschossen, machen sie Mus aus deinen Innereien.«
Rica atmete tief durch, strich eine dicke Haarsträhne aus ihrem Gesicht und öffnete die Lippen zu einer Mischung aus Lächeln und Zähnefletschen. »Mich freut es auch sehr, dich wieder zu sehen. Zumal ich bis zu deinem Anruf heute Vormittag nicht wusste, ob du noch lebst. Dr. Kranz lässt die ganze Spree nach deiner Leiche absuchen.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat es mir erzählt. Ich durfte die halbe Nacht bei der SGB verbringen.«
Ich sagte nichts, sondern lauschte auf die Schritte möglicher Verfolger. Nichts. Seit ihrer Ankunft auf dem Parkplatz hatte ich Rica beobachtet und war ihr heimlich durchs Unterholz gefolgt. Keine Spur von der SGB. Seit der Hobbyfotograf von der Ruine gekommen war, schienen wir beide hier oben allein zu sein.
Ich senkte den Lauf der PSM und
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