Wenn der Golem erwacht
Quadratmeter großes Diorama nahm fast den gesamten Raum ein. Auf dem sorgfältig gestalteten Landschaftsmodell, komplett mit Hügeln, Wäldern, Farmhäusern und mit richtigem Wasser gefüllten Flüssen, standen Tausende von blauen und grauen Miniatur Soldaten, jeder nur so groß wie ein Fingerglied und jeder sorgfältig bemalt. Infanteriekolonnen marschierten durch schmale Täler, Reitertrupps sprengten über Ebenen, auf denen noch die Leichen des letzten Gefechts lagen, und im Schutz der Wälder warteten ganze Geschützbatterien auf den Feind.
»Gettysburg, erster bis dritter Juli 1863«, erklärte Bartsch. »Die Schlacht, die General Lees große Offensive abschloss, leider nicht mit dem gewünschten Ergebnis.«
»Sie spielen die Schlacht nach?«
Meine Frage trug mir einen strafenden Blick ein, und der mächtige Leib des ehemaligen NVA-Offiziers straffte sich. »Junger Mann, ich spiele dieses historische Ereignis nicht einfach nach! Ich versuche, die Gründe herauszufinden, die zum Scheitern von Lees Plan führten. Hätte Lee gesiegt, wäre der Krieg vielleicht zwei Jahre eher beendet gewesen und die Konföderation hätte als selbstständiger Staat überlebt.«
»Haben Sie etwas übrig für geteilte Nationen?«
»Oh, ich bin ein Fan der Einheit, besonders der so genannten Wiedervereinigung«, antwortete Bartsch hochgradig gekünstelt. »Am meisten habe ich mich gefreut, als ich meinen Posten bei der NVA verlor!«
»Es scheint Ihnen nicht gerade schlecht zu gehen.«
»Glück im Unglück. Einer Großtante aus dem Westen, von der ich gar nichts wusste, verdanke ich diesen Hof. Und eine hübsche Summe D-Mark gehört auch noch zum Erbe.« Er wandte sich wieder seinem Schlachtfeld zu. »Aber das ändert nichts daran, dass Lees Scheitern zu bedauern ist. Er wollte seine Armee durch Maryland und Pennsylvania führen, um …«
»Hugo!«, fuhr Rica dazwischen. »Wir sind wegen etwas anderem hier. Den Unabhängigkeitskrieg kannst du auch morgen noch gewinnen.«
»Den Bürgerkrieg«, seufzte Bartsch, »den Bürgerkrieg.« Er verließ den Raum und winkte uns, ihm zu folgen. »Gehen wir ins Kino, ich habe schon alles vorbereitet.«
Das Kino war ein zum Vorführraum umgebauter Stall, in dem Bartsch zwölf durchgescheuerte Klappsessel installiert hatte. Die Leinwand stammte wahrscheinlich aus einem Schuhkartonkino der achtziger Jahre. Hätte Bartsch uns Popcorn und Eis zum Verkauf angeboten, hätte ich mich nicht gewundert. Aber er verschwand nach der Aufforderung, es uns gemütlich zu machen, im angrenzenden Raum mit dem Filmprojektor. Rica und ich nahmen in der hintersten Reihe Platz.
»Sperrsitz«, meinte sie grinsend. »Loge gibt's hier nicht.«
»Dein Freund Hugo ist ein seltsamer Kauz. Woher kennst du ihn?«
»Ich habe ihn bei einer Reportage über Waffenschiebereien mit altem NVA-Gerät kennen gelernt. Er kennt sich in der Szene aus. Wir waren uns von Anfang an sympathisch.«
»Soll vorkommen«, sagte ich etwas mürrisch und dachte daran, wie abweisend Rica sich seit Potsdam mir gegenüber verhielt. »Er scheint sich über den Fall der Mauer nicht gerade zu freuen.«
»Kein Wunder, sie hat ihn den Job und sein einziges Kind gekostet.«
»Sein Kind?«
»Seine Tochter. Sie war achtzehn oder neunzehn, als er sie zum letzten Mal gesehen hat. Das war in der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1989.«
»Die Nacht, als die Mauer fiel.«
Rica nickte schwach. »Was auch immer mit dir los ist, dein Langzeitgedächtnis arbeitet hervorragend.«
»Solange es nicht mich betrifft. Was ist mit Bartschs Tochter passiert?«
»Das versucht er seit mehr als zehn Jahren herauszufinden, ohne Erfolg. Hugo lebte damals mit seiner Frau und seiner Tochter Karin in Ost-Berlin. Als in jener Nacht Schabowskis Erklärung öffentlich wurde, dass Reisen in den Westen ab sofort erlaubt seien, ging auch Karin auf die Straße, wollte sich den goldenen Westen ansehen. Vermutlich gehört sie zu denen, die nach der Öffnung der Schlagbäume nach West-Berlin strömten. Seitdem hat Hugo nichts mehr von ihr gehört. Seine Frau war schon damals krank. Sie nahm sich die Sache sehr zu Herzen und ist nach einem halben Jahr gestorben. Soviel zu den Segnungen der Wiedervereinigung.«
»Das spurlose Verschwinden von Menschen ist keine spezifische Folgeerscheinung des Mauerfalls.«
»Schon wahr, aber soll Hugo sich damit trösten?«
Das Erlöschen des Lichts enthob mich einer Antwort. Der fadenscheinige Blümchenmustervorhang gab
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