Wenn der Golem erwacht
Enden. Der Streifen ist ja von der SS gedreht worden, um Fördergelder für Balmung locker zu machen. Vermutlich ist er nur bei einer Privatvorführung Hitler und seinem engsten Kreis gezeigt worden. Und wenn Adolf nicht vor Begeisterung eine Wagner-Arie gesungen hat, hat er vermutlich einen Tobsuchtsanfall bekommen. Alle möglichen Wunderwaffenprojekte wollten damals finanziert sein: Die V-Waffen, Düsenjäger, Einmann-Torpedos, Kleinst-U-Boote und Ferngeschütze. Und dann auch noch Geld in den Aufbau einer Frankensteindivision pumpen? Wahrscheinlich hat Hitler dem ehemaligen Hühnerzüchter und Reichsführer SS gehörig den Kopf gewaschen.«
»Also gab es keine Balmung-Soldaten, wie der Film sie gezeigt hat?«, fasste ich nach.
»Die Kerle im Film waren vermutlich stinknormale Angehörige der Waffen-SS, denen man befohlen hat, wild schießend durch den Wald zu rennen. Die medizinischen Tests, die man gesehen hat, können anlässlich einer x-beliebigen Musterung erfolgt sein. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass die SS in dieser Richtung geforscht hat. Himmler und sein Verein haben so viele Wahnsinnstaten auf dem Gewissen, dass ihnen auch das zuzutrauen ist. Aber falls es darüber Unterlagen gibt, sind sie wohl in den Wirren des Zusammenbruchs verschollen. Bis auf die natürlich, die später in der DDR auftauchten und auf höchster Geheimhaltungsstufe behandelt wurden.«
Seine letzte Bemerkung hatte er einfach so dahingesagt, aber ich war davon elektrisiert und sprang auf. »Was für Unterlagen, Herr Bartsch?«
»Nun mal langsam, setzen Sie sich erst wieder.« Ruhig schob Bartsch den Rest Sauerkraut auf seinem Teller zusammen, beförderte ihn in seinen Mund und kaute genüsslich. Er spülte mit einem Schluck Bier nach und fuhr fort: »Ihr quetscht mich aus wie eine Zitrone. Jetzt bin ich mal an der Reihe. Um was geht es eigentlich? Wem oder was seid ihr auf der Spur?«
Rica übernahm die Antwort: »Top secret, Hugo, du musst uns schon vertrauen.«
»Aber unsere Abmachung gilt?«
Ricas Lächeln musste einfach jedes männliche Wesen dahinschmelzen lassen. »Hugo, du weißt doch, ich bin eine Ehrenfrau.«
»Also gut.« Er schob seinen Teller beiseite, stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab und sah Rica an. »Du hast mich gestern am Telefon nach einem Geheimprojekt oder Codewort ›Golem‹ gefragt. Darunter verbirgt sich nichts anderes als die Fortführung des Projekts Baimung.«
Vor uns auf dem Esstisch lag die dicke Akte mit dem Stempel der Staatssicherheit:
Nur vertrauliche Einsichtnahme gestattet. Jede Weitergabe an Dritte oder deren Unterrichtung über den Inhalt als Ganzes oder über Einzelheiten ist unzulässig und strafbar. Die Dokumente müssen nach Benutzung vom Empfangsberechtigten unaufgefordert an die Ausgabestelle zurückgegeben werden.
Es war eine dicke Akte mit Anträgen, Stellungnahmen, Gutachten, Memoranden, und sie trug vorn den fetten Aufdruck OPERA-TION GOLEM.
Ihr Inhalt bestätigte Bartschs Worte. Die DDR hatte Unterlagen über das Projekt Baimung in die Hände bekommen und die Forschungen unter dem Codenamen ›Golem‹ weitergeführt. Der Grund für diese Bezeichnung lag auf der Hand: Wie die Sagengestalt des Golems war der neue Soldat, der geschaffen werden sollte, ein schwer besiegbares Wesen, nur dazu da, die Befehle seines Herrn bedingungslos auszuführen. Bei den Nazis, um den längst illusorisch gewordenen Endsieg herbeizuführen, in Ostdeutschland, »um eine wirksame Waffe im Kampf gegen den kapitalistischen Klassenfeind zu erhalten«, wie es in der Akte hieß. Und weiter: »Der Golem ist sowohl als Frontkämpfer für den offenen Konflikt wie auch als Kundschafter bei der Ausspähung des Gegners ein unschätzbares Instrument.«
Rauch aus Bartschs Pfeife schwängerte den Raum. Der ehemalige NVA-Offizier saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, rauchte und trank Bier, während Rica und ich mit wachsendem Staunen die Akte durchgingen. Hin und wieder stellten wir ihm Fragen.
»Hatten Sie persönlich mit der Operation Golem zu tun?«, wollte ich wissen.
»Wo denken Sie hin? Ich war ein einfacher Offizier. Ich wusste selten mehr, als man in der ›Aktuellen Kamera‹ erfahren konnte. An die Akte bin ich erst im Laufe meiner Sammlertätigkeit geraten.«
Noch einmal ging ich die Akte durch. Die früheste Eintragung, ein Memo des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit, stammte von 1966, die letzte, ein wissenschaftliches Gutachten von einem Professor Rudolf Baumes, von
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