Wenn der Golem erwacht
keine Golem-Armee, um sich selbst auszurotten.«
»Ein wahres Wort«, erwiderte ich. »Nur aus Ihrem Mund hätte ich es nicht erwartet, Herr Hauptmann.«
»Deswegen?« Er zeigte auf seine Uniform. »Sie wissen doch: Hunde, die bellen, beißen nicht.«
16
E s war weit nach Mitternacht, als wir Hugo Bartsch verließen. Auf dem Rücksitz des Opels lag eine Fotokopie der Stasi-Akte, die der NVA-Hauptmann für uns angefertigt hatte. Rica lenkte den Wagen durch ein verlassenes Waldstück, das nur von unseren Autoscheinwerfern erhellt wurde. Baum um Baum erstrahlte für Hundertstel von Sekunden im hellen Licht und war Vergangenheit, ehe er noch richtig wahrgenommen wurde.
So undurchdringlich wie der Wald kam mir das Gestrüpp aus Informationen vor, das bei Bartsch auf uns eingeprasselt war. Je länger ich darüber nachdachte, desto phantastischer erschien mir alles. Ein geheimes SS-Projekt, von der DDR-Staatssicherheit weitergeführt, das hörte sich an wie der Albtraum eines Spionage-Schriftstellers. Unwirklich wie der über die Kriegslüsternheit der Menschheit moralisierende Hauptmann und Militariasammler.
»Du und dieser Bartsch, was für eine Abmachung habt ihr getroffen?«, fragte ich.
»Was meinst du?«
»Er erwähnte eine Abmachung, und du hast dich auf deinen guten Ruf als Ehrenfrau bezogen.«
»Ach so, das.« Rica lachte leise. »Hugo ist manchmal wie ein großes Kind, aber das sind wohl alle fanatischen Sammler. Obwohl sein umgebauter Bauernhof bald aus allen Nähten platzt, ist er immer auf der Suche nach neuen Stücken. Wenn ich bei meinen Recherchen irgendetwas ausfindig mache, was für ihn interessant sein könnte, schanze ich ihm die Information zu. Gefallen gegen Gefallen, das ist unsere Abmachung.«
»Mehr nicht?«
Rica warf mir einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte sie sich wieder auf das dunkle Band der Straße. Aber der eine Moment, in dem sich unsere Blicke begegneten, genügte mir, um ihre Enttäuschung zu erkennen.
»Du traust mir immer noch nicht, nicht wahr?«
»In meiner Situation ist es schwer, so etwas wie Vertrauen zu entwickeln. Außerdem musst du zugeben, Rica, dass dein Freund Bartsch ein komischer Heiliger ist.«
»Er hat uns geholfen, und ich helfe dir.« Sie trat hart auf die Bremse, und kreischend hielt der Wagen an, stand mit leise brummendem Motor irgendwo im Berliner Forst. »Aber wenn du mir nicht vertraust, steig doch einfach aus! Die Kopie der Akte kannst du mitnehmen.«
Ich betrachtete Rica und versuchte herauszufinden, wie ernst sie es meinte. Sie starrte mich mit ernstem Gesicht und zusammengepressten Lippen an. Das Zucken ihres rechten Auges verriet ihre starke Erregung. Wenn ich jetzt ausstieg, würde sie einfach weiterfahren? Ich war mir nicht sicher.
»Willst du deine Exklusiv-Story sausen lassen?«, fragte ich.
»Ich arbeite um zu leben, aber ich lebe nicht, um zu arbeiten. Wenn du nicht bald mit deinem Misstrauen aufhörst, ist mir der Aufwand entschieden zu groß.«
»Okay, versprochen, ich höre bald mit meinem Misstrauen auf.«
»Wie bald?«
»Jetzt bist du aber misstrauisch, Rica. Fahr endlich!«
Sie setzte den Wagen wieder in Bewegung, und ich fühlte mich erleichtert. Rica war mir eine wertvolle Hilfe.
Und es tat gut, nicht allein zu sein.
Sehr gut.
Sylvia Sallmanns Wohnung lag in der Kochstraße, dritter Stock in einem Mietshaus mit schäbiger Fassade, nahe der Friedrichstraße. Wenn man ans Fenster trat, konnte man den Checkpoint Charlie sehen, wo das von Scheinwerferlicht angestrahlte Porträt eines Sowjetsoldaten mit wuchtiger Schirmmütze über dem Babyface mehr als Blickfang für Touristen denn als mahnende Erinnerung an vergangene Zeiten über der Straße hing. Hier war einst einer der wenigen durchlässigen Punkte zwischen Ost und West gewesen, der Grenzübergang ›C‹ für Ausländer und Diplomaten.
Ausgerechnet hier suchte ich nun Unterschlupf, bedrängt von einer Gefahr, die vielleicht aus jener alten Zeit des Kalten Krieges stammte. Es erschien mir wie eine bittere Ironie. Das gallige Gefühl wollte auch nach zwei doppelten Martinis nicht verschwinden.
Die Wohnung bestand aus einem einzigen großen Zimmer, das ein Raumteiler in Wohn- und Schlafbereich trennte. Das Bett war nicht besonders breit, hätte aber für zwei gereicht. Trotzdem wies Rica mir die Couch zu, und ich war nicht überrascht. Mein Misstrauen hatte sie härter getroffen als ich erwartete. Ihr sonstiges Auftreten ließ nicht darauf schließen, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher