Wenn der Golem erwacht
1985. Darin sprach der Gutachter von den neurochirurgischen Fortschritten bei der Operation Golem.
Soweit ich das Fachchinesisch verstand, ging es um operative Eingriffe am Gehirn mit mehreren Zielsetzungen: Reduzierung der emotionalen Hemm- und Angstschwelle, Überlagerung des eigenen Willens durch ›höherrangige Interessen‹, Heraufsetzung der Reaktionsfähigkeit und Manipulation der Sinneswahrnehmung.
Unwillkürlich tastete ich über meinen Kopf und verharrte an den beiden kahlen, vernarbten Stellen. Die Berührung schmerzte nicht mehr so stark wie in der Nacht meiner Flucht, als ich den Kopfverband abgenommen hatte. Schlimmer als das Brennen, das meine Berührung auslöste, war der Gedanke an das, was man mit mir angestellt hatte.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Bartsch und sah mich besorgt an.
»Sehr verwirrend, das Ganze«, sagte ich ausweichend. »Wieso bricht die Akte im Jahr 1985 ab?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie unvollständig. Vielleicht wurde Operation Golem nicht weitergeführt. In den achtziger Jahren schlitterte die DDR immer tiefer in die Schuldenfalle. Die Sowjetunion kürzte 1981 ihre Öllieferungen zu Billigpreisen, was in der DDR nicht nur zur Ölverknappung führte, sondern auch zu einem erheblichen Ausfall von Devisen, die mit der Weiterverarbeitung des Erdöls bis dahin erwirtschaftet worden waren. Man investierte in den Braunkohleabbau, aber das stellte sich zum ersten als Umweltkatastrophe und zum zweiten als sehr kostspielig heraus. Der Besuch des bisherigen Erzfeindes Franz Josef Strauß bei Honecker 1983 und der von Strauß vermittelte Milliardenkredit sprechen für sich. Trotz aller verzweifelter Rettungsversuche geriet die DDR immer tiefer in die Wirtschaftskrise. Gut möglich, dass die Gelder für Operation Golem kurzfristig gestrichen wurden.«
All das war mir zu nebulös, half mir nicht, das zu erklären, was mit mir geschehen war. Deshalb erkundigte ich mich: »Ist es denkbar, dass diese Forschungen trotzdem weitergeführt wurden?«
»Ohne Finanzierung?«
»Vielleicht finanziert durch eine geheime Quelle.«
Bartsch stützte den linken Ellbogen auf den Tisch und rieb mit der Hand nachdenklich über die grauen Stoppeln an seinem Kinn. »Denkbar ist es, auch wenn keine Hinweise darauf vorliegen. Die DDR hat eine Menge Geld für ihre Verteidigung aufgewendet, auch ein Grund für ihre immense Verschuldung. 1981 hat der Militärhaushalt zehn Milliarden Mark verschlungen, die vier Milliarden für den ›Schutz der Staatsgrenze‹, wie die Grenzabschottung hieß, nicht mitgerechnet.« Unvermittelt begann er zu grinsen.
Rica sah ihn irritiert an. »Was ist denn los, Hugo?«
»Mir fiel nur gerade ein alter DDR-Witz ein: Welche Staatsbürgerschaft hat Amor?« Bartsch blickte uns fragend an, aber Rica und ich wussten es nicht. »Die der DDR«, fuhr er fort. »Kein Hemd auf dem Arsch, aber bis an die Zähne bewaffnet.«
Pflichtschuldig grinste ich und fragte dann: »Könnte es irgendwo noch mehr Akten über die Operation Golem geben?«
»Im Prinzip ja, um mit Radio Eriwan zu sprechen. Aber sie können sich ebenso in privater Sammlerhand befinden oder in einem alten Stasi-Versteck. Vielleicht ist aber auch alles andere dem Reißwolf zum Opfer gefallen. Als sich das Ende unseres schönen Arbeiter- und Bauernstaates abzeichnete, hat die Stasi Akten im Ackord vernichtet. Mitte November neunundachtzig erging der entsprechende Befehl, und erst im Dezember begannen Bürgerkomitees, in diversen Städten die Stasi-Zentralen zu besetzen und die Aktenvernichtung zu beenden.«
»Und danach? Könnte die Golem-Sache nach der Wiedervereinigung neu belebt worden sein?«
»Wollen Sie mir mit dem Gerede über alte Seilschaften kommen?« Bartsch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist doch alles Humbug!«
»Warum alte Seilschaften, warum nicht neue? Der Kalte Krieg hat auch bei den westlichen Rüstungsanstrengungen manche Blüte getrieben. Blüten, die mit Glasnost und Wiedervereinigung nicht abgestorben sind.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Bartsch. »Die westlichen Geheimdienste, allen voran die CIA, haben sich bei der Auflösung der DDR überschlagen, um an geheime Stasi-Unterlagen heranzukommen. Aber das ist bei unserem Kenntnisstand reine Spekulation. Von mir aus kann es so bleiben.« Er zeigte auf die Schlachtengemälde an den Wänden. »Die Menschheit hat im Lauf ihrer Existenz genügend unter Beweis gestellt, wie blutrünstig und kriegslüstern sie ist. Sie braucht
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