Wenn der Golem erwacht
du seine Nase mit dem Ball gebrochen? Absichtlich?«
Ich nicke zögernd, wohl wissend, dass Vater keine Ausflüchte duldet und jede Lüge zehnmal schlimmer bestraft als das, was man zu verbergen sucht.
»Warum?«
Ich erzähle von unserem Ballspiel und davon, wie mein Bruder mich behandelt hat.
»Dachte ich es mir doch!«, schnaubt Vater, zieht mich hoch und schließt mich tröstend in seine Arme.
Ich bin sein Bester, wie immer. Ein paar Meter entfernt steht mein Bruder mit blutender Nase, in den Augen Trauer und, als er mich ansieht, Rachsucht und Hass.
»Damals habe ich beschlossen, mich eines Tages an dir zu rächen. Ich musste lange auf die passende Gelegenheit warten, sehr lange. Aber warum nicht? Heißt es nicht, Rache sei ein Gericht, dass man am besten kalt genießt? Wer immer das gesagt hat, es stimmt.«
Die Stimme meines Bruders holte mich aus der Traumwelt. Ich lag, noch immer gefesselt, in meinem Krankenbett.
Mein Bruder stand neben mir und sah mich mit demselben feindseligen Blick an wie damals. Nur lagen seine Augen jetzt hinter dicken Brillengläsern.
Ich verstand das alles nicht und fragte: »Warum?«
20
D r. Einar Kranz erweckte in seinem Gesichtsausdruck und in seiner ganzen Haltung den Ausdruck vollkommener Überlegenheit.
Er trug ein hellbraunes Sakko, vermutlich eine Maßanfertigung, das seinen untersetzten Körperbau kaschierte. Nur ein geübtes Auge konnte die kleine Beule unter der linken Schulter erkennen, wo vermutlich eine SIG-Sauer P228 im Holster steckte. Jetzt, wo meine Erinnrung Stück für Stück zurückkehrte, wusste ich wieder, dass die P228 neben der Glock 17 die Standardwaffe der Sicherungsgruppe Berlin war. Einar hatte, wie ich selbst, der P228 den Vorzug gegeben.
Seine dunkle Hose fiel unten über die glänzenden dunkelbraunen Slipper. Schon als Kind hatte er es gehasst, Schnürsenkel zuzubinden. Vielleicht lag es daran, dass er sich ungern verbeugte, vor niemandem, und nicht einmal dann, wenn niemand sonst anwesend war. Mein großer Bruder Einar war schon immer stolz gewesen, ein wenig zu stolz, wie ich fand.
Auch jetzt stand die Selbstzufriedenheit in seinen Zügen geschrieben, die in den letzten Jahren ein wenig zu fleischig geworden waren. Die Augen hinter den achteckigen Brillengläsern sahen auf mich herab wie die eines Großwildjägers, der seine seltene Beute anstarrte. Als wollte er jeden Augenblick in die Runde blicken und sagen: »Seht her, nur ich konnte das schaffen!«
Auch ich sah mich um, erblickte Ambeus, Ira und zwei weitere Männer in weißen Kitteln. Es waren dieselben, die ich schon vor meiner Flucht aus Zimmer 17 gesehen hatte. Und hinten an der Tür stand noch ein Mann, bekleidet mit einem grauen Sakko. Auf seiner linken Wange leuchtete das rote Muttermal.
Martin Knaup sah mich mit einem ähnlichen Ausdruck an wie mein Bruder. Als ich noch bei der SGB war, hatte er mir deutlich zu verstehen gegeben, was er von mir hielt. Nach seiner Ansicht verdankte ich meine Stellung als Einars rechte Hand nur unserer verwandtschaftlichen Beziehung. Es musste ihn mit großer Befriedigung erfüllen, jetzt meinen Posten innezuhaben.
Eine Klimaanlage brummte leise und gleichmäßig vor sich hin. Ein oder zwei medizinische Geräte neben meinem Bett meldeten sich hin und wieder mit einem Piepton. Alle anderen Apparate waren ausgeschaltet. Bis auf das Atmen der Menschen war weiter nichts zu hören, keine Krankenhaus- und keine Straßengeräusche. Ich war in einem schallisolierten Raum gefangen, wieder einmal. Wie in jenem Zimmer 17 in der Uckermark.
Mein Blick kehrte zu meinem Bruder zurück. »Warum, Einar?«
»Du hast es doch gerade selbst erzählt, Arved, in deinem Traum.«
Ungläubig starrte ich ihn an. »Das kann es doch nicht sein! Nur wegen der Geschichte damals am Wannsee?«
Einar fuhr mit dem Zeigefinger der linken Hand langsam über seine gekrümmte Nase. »Das hier hat mich immer an den Vorfall erinnert. Aber du solltest wissen, dass ich nicht nur von jenem Abend spreche. Du bist Vaters Liebling gewesen, warst es immer, vom ersten Tag an. Ein Blick aus deinen treuen Augen, und Vater stand auf deiner Seite. An jenem Abend, als er mich ins Krankenhaus fuhr, hatte er kein einziges tröstendes Wort für mich. Nur Vorhaltungen, dass alles meine Schuld sei und dass er jetzt für die Katz gegrillt habe!«
»Vater war immer streng«, gab ich zu und sah ihn wieder vor mir stehen, aufrecht und stolz: Dr. Thorben Kranz, Richter am
Weitere Kostenlose Bücher