Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
sagen, dass dieses Monster nicht aufhören wird, dich zu jagen. Nicht bevor einer von euch beiden tot ist. Das ist eins der Dinge, die Elaina dir gern noch gesagt hätte, bevor sie starb. Ich glaube, sie hatte Angst, dass so etwas eintreten könnte – dass diese Kreatur, der Casus, zurückkehren könnte. Und sie glaubt, das ist der Grund, weshalb der Merrick in dir nun erwacht. Wegen deiner Abstammung ist er immer da gewesen, aber er hat geschlafen. Gewartet. Jetzt, da einer seiner Feinde aufgetaucht ist, wird er versuchen, dich vor ihm zu beschützen.“
„Was ist mit meinem Bruder und meiner Schwester. Wird in ihnen auch etwas aufwachen?“
„Mit der Zeit schon, glaubt Elaina. Aber bisher bist nur du derjenige, hinter dem das Monster her ist. Du bist der Anfang, aber sie hat mir nicht gesagt, der Anfang von was. Ich bin gar nicht sicher, ob sie das selber weiß.“
Er lehnte sich zurück und ließ sie nicht aus den Augen. „Und dieses … dieses Ding, das in mir steckt, dieser Merrick … ist er böse?“ Die Worte kamen so rau aus seiner trockenen Kehle, dass Molly klar war, wie schwer es ihm fiel, diese Frage zu stellen.
„Nein“, antwortete sie leise und ehrlich. „Aber …“
„… gut auch nicht“, brachte er den angefangenen Satz zu Ende. „Er mag ein Feind von diesem Casus sein, aber er ist trotzdem ein Mörder. Ein Raubtier.“
„Das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen, er ist nicht gerade … gezähmt.“ Sie war ärgerlich, weil er ihr Wörter in den Mund legte. „Er ist primitiver als Menschen. Instinktiver. Aber tief im Innern gut. Du würdest niemals jemandem etwas zuleide tun, außer, es muss sein.“
Misstrauisch schüttelte Ian den Kopf, rieb sich das Kinn, hätte ihr so gern geglaubt, wagte es aber nicht. „Glaubst du das wirklich?“
„Ja.“ Trotzdem verstand Molly, wie groß seine Furcht sein musste. Selbstverachtung richtete genau dasselbe mit einem an. Als hätte man Salzsäure in den Venen, die einen langsam von innen auffraß und nur ein verrottendes Skelett übrig ließ. Über diese Art Folter wusste sie Bescheid. Sie hatte Jahre in ihrer kalten Umklammerung gelebt. „Du würdest nie jemandem wehtun, Ian“, beruhigte sie ihn mit sanfter Stimme und hoffte, er würde ihr glauben … ihr vertrauen.
Er ließ den Kopf hängen, starrte in seine rechte Handfläche, rieb sie mit dem linken Daumen, als wolle er da einen Schmerz vertreiben. Sie wusste, dass er das Thema wechseln wollte. „Soweit ich mich an Elainas Geschichten erinnere, waren diese Casus echte Ekelpakete. Die stehen darauf, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Leute zu quälen und zu foltern. Das ist deren Ding.“
„Und dieser besondere Casus hat es auf dich abgesehen.“ Sie erschauerte bei der Erinnerung an das entsetzliche Wesen aus dem Traum. „Elaina glaubt, er würde dich für irgendetwas benutzen, aber sie ist nicht sicher, zu was und wieso.“
Das Blitzen und Donnern draußen passte genau zu seinem harten Gesichtsausdruck, und sie wäre gern zu ihm gegangen. Sie hätte die Hände gern auf sein zerfurchtes, schönes Gesicht gelegt, mit dem Daumen über seine hohlen Wangen gestrichen und ihm einen tröstenden Kuss auf die Brauen gedrückt. Doch das wagte sie nicht – aber nicht, weil sie ihm nicht traute.
Nein, es war ihr eigenes irrationales Begehren, dem sie misstraute.
Er ballte kurz die Fäuste, streckte dann die Finger aus, als ob diese schlichte Geste die Anspannung seines Körpers lösen könnte. „Und was jetzt?“
„Wenn du überleben willst, musst du lernen, das herauszulassen, was in dir ist. Du musst die Veränderung akzeptieren, ohne dagegen anzukämpfen.“
Die Brauen über Ians unfassbar blauen Augen verzogen sich bei Mollys Worten zu einem tiefen V. „Das hältst du für eine gute Idee? Nach dem, was ich geträumt habe? Was immer dieses Ding in mir gewesen ist, Molly, was es mit mir gemacht hat, als ich dagegen ankämpfte, das war nicht schön, ob es da nun auch einen Casus gegeben hat oder nicht. Das Ding in mir wollte ihm die Kehle rausreißen.“
„Du hast gar keine andere Wahl“, flüsterte sie. „Du wirst wieder gegen den Casus kämpfen müssen, und wenn es so weit ist, musst du ihm gleichwertig sein. Deine Mutter sagt, solange du nicht akzeptierst, was du bist, wirst du ihn nicht besiegen können. Und wer kann sagen, ob nach ihm nicht noch andere kommen? Ich weiß, du willst das alles nicht, aber manchmal – manchmal müssen wir das Leben so nehmen, wie es
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