Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
sie waren die Allergrößten, oder?“, ergänzte sein Bruder grinsend.
Seine Mutter zwinkerte Riley zu. „Das waren sie.“
„Bis der Casus sie alle massakriert hat“, warf Ian trocken ein, der vor dem Ofen auf dem Boden hockte. Er schlang seine dünnen Ärmchen um seine aufgeschürften Knie; seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen, von dem seine Mutter immer sagte, es wäre viel zu verächtlich für einen Zwölfjährigen.
„Das stimmt nicht!“, protestierte Saige und streckte ihm die Zunge raus.
„Ach ja? Und wieso, glaubst du, sind sie dann alle tot?“
„Aber sie sind doch gar nicht alle tot“, sagte seine Mutter leise, und alle drei drehten die Köpfe zu ihr, mit großen, neugierigen und unsicheren Augen. Das war eine seltsame Wendung; bisher hatten ihre Geschichten diese Richtung noch nie eingeschlagen. Nicht ein einziges Mal, in all den zahllosen Wiederholungen.
„Was meinst du damit, sie sind nicht alle tot?“, fragte er ruhig, obwohl seine Worte kämpferisch und scharf die Stille des Hauses durchdrangen. Als ein Holzklotz im Ofen knackte, das feuchte Holz platzte, musste er den Drang unterdrücken, zusammenzuzucken.
Die schmalen Brauen ihrer Mutter hoben sich zur von Sorgenfalten bedeckten Stirn. „Habe ich je gesagt, sie wären tot?“
„Aber wenn sie nicht tot sind“, seine Augen waren schmal vor Misstrauen, „wo sind sie denn dann?“
„Direkt vor deiner Nase“, erklärte sie mit einem Lächeln, bei dem ihm ganz schlecht wurde. Sie hielt seinem Blick stand, ihre Mundwinkel verzogen sich nur ein ganzes kleines bisschen – das tiefe Blau ihrer Augen wurde von einem seltsamen Glühen erwärmt. „Und eines Tages, wenn das Dunkle nach dir ruft“, flüsterte sie so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte, „wenn du es in deinen Knochen spüren kannst, durch deine Venen rasen fühlst, in deinem Herzschlag – wenn deine Träume nicht mehr dir selbst gehören, Ian –, dann wirst du ihm begegnen.“
Gefangen in diesem beklemmenden Traum starrte Ian seine Mutter an, bis das Traumbild undeutlich wurde, der Umriss ihres Körpers vor der undurchdringlichen Finsternis kaum noch zu erkennen war. Er wusste, was als Nächstes passieren würde – aber er konnte einfach nicht verhindern, dass dieser ständig wiederkehrende Traum sich in einen blutigen Albtraum verwandelte. In seiner Brust hob ein wildes, ungezähmtes Grollen an, das ihm in der Kehle wehtat, der ganze Körper schmerzte, jeder Muskel verkrampfte sich in qualvoller Anspannung.
Er wälzte sich unter der schweißdurchtränkten Decke hin und her, wollte den erdrückenden Schlaf von sich werfen, aber es gelang ihm nicht, als ob der Traum seinen Körper gefangen hielt wie warmer feuchter Zement, der um ihn herum kalt und hart wurde. Wütend knirschte er mit den Zähnen, aber der Traum ging immer weiter, wie ein Film in Endlosschleife.
Jetzt veränderte sich der Traum … zog ihn immer tiefer hinab … in dunklere, trügerischere Gewässer, Gefahr lauerte in den schlammigen Tiefen unter seinen Füßen. Verschwunden war das Heim seiner Kindheit, mitsamt seiner Mutter, seiner sommersprossigen Schwester Saige und seinem dürren, nervtötenden Bruder Riley. Jetzt füllte der reife Duft des Waldes seinen Kopf, feuchte Nachtluft war um ihn herum, beklemmend und düster und viel zu nah. Mitternächtliche Schwärze lastete schwer auf ihm, sein Magen zog sich vor Anspannung immer mehr zusammen … und dann konnte er es sehen. Das flackernde Glimmen eines Lagerfeuers in einiger Entfernung, die zuckenden Flammen durch die unheilvolle Dunkelheit kaum erkennbar. Wind kam auf, er brachte einen satten, provozierenden Geruch von Paarung mit sich, gleichzeitig wurde die unnatürliche Stille des Waldes plötzlich vom düster pulsierenden Rhythmus einer Musik erfüllt.
Er stand schweigend und reglos da und war sich des langsamen, schweren Hämmerns seines Herzens voll bewusst, des intensiven Brodelns seines Blutes, das durch seinen verkrampften, starren Körper raste. Seine Hände verkrümmten sich, die Fingerspitzen brannten wie heiße Nägel auf seiner Haut, ungezügelter Heißhunger schwappte wie eine mächtige Welle durch ihn hindurch und konzentrierte sich auf sein Geschlecht. Er holte tief Luft und spürte, wie sein Körper auf irgendeine aberwitzige metaphysische Art geradezu aufbrach und sich irgendetwas ganz tief aus seinem Inneren in ihm breitmachte, unter seiner fiebrigen Haut zum Leben erwachte. Etwas, das sich in
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