Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause
Vorabiklausuren an. Die erste große Prüfung. Ich habe noch nie so viel Panik auf so engem Raum gesehen. Und enger Raum ist in diesem Falle leider wörtlich gemeint, denn bei der Zuteilung der Klausurräume hatte man nicht beachtet, dass es mit drei Kursen à fünfundzwanzig Schüler in einem Raum mit nur sechzig Plätzen etwas knapp werden könnte. Anstatt in Ruhe einen Alternativraum zu suchen, verfielen unsere Lehrer lieber in Hysterie und allgemeine Anschuldigungen gegen alles, was nicht schnell genug weglaufen konnte. Nicht gerade eine nervliche Erleichterung, wenn am Anfang einer Klausur der Panikpegel nochmal angehoben wird.
Aber man beruhigte sich bald, handelte es sich ja lediglich um eine Generalprobe für die richtigen Prüfungen. Doch verleugnen konnte man es nicht: noch einen Monat bis zum Ende der Schule und damit noch zwei Monate bis zu den Abiturprüfungen.
Wir trafen uns in Lerngruppen und versuchten irgendwie, den Massen an Stoff Herr zu werden. Der Wirkungsgrad einer solchen Lerngruppe liegt allerdings höchstens im einstelligen Prozentbereich. Ein typisches Abiturlerntreffen lief jedes Mal ähnlich ab:
Es ist Samstag. Noch circa drei Wochen bis zur ersten Abiklausur in Mathematik. Ich treffe mich mit Thomas bei Orhan zu Hause. Fabio ist ebenfalls da, obwohl er die Schule schon drei Jahre zuvor abgebrochen hat und seitdem eine Phase des Dauerchillens durchlebt, die nur von einem kurzen Versuch einer Schreinerlehre unterbrochen wurde. Er macht sich über die von Orhans Mutter bereitgestellten Kekse her und über uns lustig: «Haha, Mathe ist scheiße. Gut, dass ich den Kram geschmissen habe.»
Wir versuchen ihn mit dem Hinweis zu ärgern, welch unheimlich geile Jobmöglichkeiten wir mit unserem Abi hätten, müssen dann aber eingestehen: Fabio ist aktuell rein arbeitstechnisch in der besseren Situation.
Als der sich von unseren Mathebüchern ab – und Orhans Spielekonsole zuwendet, kann das Lernen endlich losgehen. Nach wenigen Minuten haben wir uns gegenseitig mit fadenscheinigen Argumenten davon überzeugt: Wir brauchen gar nicht mehr zu lernen, weil wir eh schon alles können. Das stimmt zwar nicht, aber der systematische Selbstbetrug ist die Mutter des Abiturlernens.
Wir beschließen, kurz die Bundesligahalbzeitkonferenz im Radio zu hören. Wenn man die hört, darf man natürlich auch die Schlusskonferenz nicht verpassen. Nach zwei Stunden pfeift der Schiri in Nürnberg das letzte Spiel ab. Orhan fragt, was eine binomische Formel sei, aber da das niemand spontan beantworten kann, verschieben wir die Frage auf später. Dann besiegelt die Sportschau einen anstrengenden Tag des Lernens.
Diese Lernrunde ist symptomatisch für die Verfassung, in der man sich vor dem Abitur permanent befindet: Eine Art Schwebezustand zwischen dem Aufschieben von Arbeit und einem ganz schlechten Gewissen, wenn schon wieder ein Tag ohne effektiven Lernerfolg vorbei ist.
Zwei Wochen vor den Prüfungen brach dann doch so etwas wie Arbeitseifer aus. In dieser Phase mutiert jeder noch so faule Schüler panikgetrieben in ein nervliches Wrack mit integrierter sozialer Inkompatibilität. Jede Unterbrechung des Lernens – oder dessen, was man als Lernen ausgibt – wurde zur existenziellen Bedrohung. In diesem Jahr kam es doppelt schlimm: Ostern fiel genau in die Extremlernphase. Und so mutierte der Osterhase in ein «asoziales Arschloch» (Zitat Thomas), weil das Eiersuchen einfach viel zu viel Zeit in Anspruch nahm.
Schüler im Abistress können ganz schön unangenehm werden. Man muss das aber auch verstehen: Ein ganzes Jahr über nerven einen die Eltern mit ihren Ermahnungen, man solle doch endlich mal etwas für das Abitur tun – und kurz bevor dasselbige dann ansteht, haben Väter und Mütter nichts Besseres zu tun, als einen vom Lernen abzuhalten. «Du musst doch auch mal eine Pause machen» oder «Du brauchst auch einen Ausgleich neben der ganzen Lernerei» sind dann gerne vorgetragene Sätze.
Meine Mutter hatte außerdem beschlossen, mich zu mästen. Ich weiß nicht, ob sie plante, mich nach dem Abitur an einen Schlachtereibetrieb zu verkaufen, aber sie setzte alles daran, mir große Mengen Schokolade und Kekse zuzuführen. Sie nannte diese süßen Lernunterbrechungen «Nervennahrung». Ich habe während meines Abiturs ungefähr vier Kilo zugenommen und musste anschließend mehr Zeit investieren, diese wieder abzutrainieren, als ich insgesamt in meine Abiturvorbereitung gesteckt hatte.
Manchmal
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