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Wenn der Wind dich ruft

Wenn der Wind dich ruft

Titel: Wenn der Wind dich ruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
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unmöglich war, denn es gab keinen Balkon davor, noch nicht einmal ein Sims und auch keinen hohen Baum oder ein Spalier. Sie schob das Fenster auf, sodass ein Stoß frischer, kalter Luft in die mollige Wärme ihres Zimmers dringen konnte. Jemand hatte nicht nur ihr Fenster geschlossen, sondern zudem das Feuer mit einem neuen Holzscheit versorgt.
    Sie beugte sich über die Fensterbank nach draußen, suchte unten am Boden nach einer Bewegung, einem Schatten. Aber die Nacht mit der schmalen Mondsichel und den glitzernden Sternen lag so verlassen wie vorhin. Sie ließ sich auf dem Fenstersitz nieder, drehte den Pflock in ihren Händen. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie Julian mit seinen schlanken, geschickten Fingern das Band um die spitze Stichwaffe zu einer Schleife band, ehe er es auf ihr Kissen legte.
    Sollte es eine Einladung sein oder ein Abschiedsgeschenk? Ein Versprechen oder eine Warnung?
    Ergib dich , hatte er in ihrem Traum geflüstert. Aber was wollte er von ihr? Ihr Herz, ihre Hoffnungen oder gar ihre Seele? Den Pflock an ihre Brust gedrückt, drehte sie ihr Gesicht zum Mond und wartete auf das Morgengrauen.
    Am nächsten Morgen betrat Portia müde das Frühstückszimmer, gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sie hatte den größten Teil der Nacht am Fenster Wache gehalten und war schließlich eingenickt, als die ersten schwachen Sonnenstrahlen über den Dächern erschienen. Weniger als zwei Stunden später war sie aufgewacht, ihre Muskeln schmerzend und steif, ihre klammen Finger nach wie vor um den Pflock geschlungen.
    Sie hatte ihn mitsamt der Schleife in die abnehmbare Tasche an ihrem Rock gesteckt, ehe sie nach unten gegangen war. Sie wusste, irgendwann musste sie ihn Adrian zeigen, aber in einer selbstsüchtigen Ecke ihres Herzens wollte sie ihn dort behalten, noch eine kleine Weile vor den Augen der anderen verstecken. Es war nicht auszuschließen, dass es das letzte Geheimnis war, das sie und Julian je teilen würden.
    Adrian saß an der anderen Seite des runden Tisches, Caroline neben sich. Von den dunklen Schatten unter den Augen beider zu schließen hatten sie nicht mehr Schlaf gefunden als sie selbst. Ihre grimmigen Mienen standen in krassem Gegensatz zu dem strahlenden Sonnenschein, der auf dem Schnee glitzerte, der noch die Terrasse vor den hohen französischen Fenstern bedeckte. Die kleine Eloisa, die sich gewöhnlich um diese Zeit damit vergnügte, Löffel voll Haferbrei auf Wilbury zu werfen, war nicht anwesend, ein schlechtes Zeichen. Larkin saß offensichtlich erschöpft in dem Stuhl Adrian gegenüber, seine Krawatte hatte sich halb gelöst, und sein braunes Haar war so unordentlich, als sei er in einen Wintersturm geraten.
    Kein Lakai befand sich zum Servieren im Raum, und die Teller, die sie sich an dem eleganten Sideboard aus Walnussholz gefüllt hatten, schienen unberührt. Während Portia zusah, stach Caroline geistesabwesend mit ihrer Gabel in die Rühreier auf ihrem Teller, unternahm aber keinen Versuch, das Essen zu ihrem Mund zu führen.
    Verwundert musterte sie die Anwesenden der Reihe nach. »Was ist denn mit euch los? Man könnte glatt meinen, jemand sei gestorben.«
    »Genau«, erwiderte Larkin knapp und strich sich dabei seine Haare aus der Stirn. »Es hat letzte Nacht wieder einen Mord in Charing Cross gegeben, diesmal noch brutaler als die anderen zuvor.«
    Portia tastete blindlings nach einer Stuhllehne, wünschte sich, ein Lakai wäre da. Sie traute ihren Knien nicht länger, sie zu stützen.
    Caroline streckte die Hand aus und drückte Adrians.
    »Es kann nicht dein Bruder gewesen sein. Du hast doch gehört, was Portia letzte Nacht erzählt hat. Sie hat uns versichert, dass er London verlassen wollte.«
    Adrian schüttelte den Kopf, der Ausdruck in seinen Augen so leer und trostlos wie seine Miene. »Das könnte mich trösten, wenn ich wüsste, dass er wirklich schon weg ist.«
    »Das ist er aber nicht.« Portias Worte hatten die Wirkung eines Donnerknalls. Alle schauten sie an, in ihr aschfahles Gesicht. »Er muss letzte Nacht in mein Zimmer gekommen sein, während ich schlief. Er hat das hier für mich dagelassen.« In die Tasche ihres Rockes fassend, holte sie den Pflock hervor und warf ihn auf den Tisch. Die Schleife löste sich auf dem weißen Leinentuch und fiel wie ein Band aus getrocknetem Blut darauf.
    Adrian betrachtete es schweigend, ein Muskel in seiner Wange zuckte.
    »Liebling«, flüsterte Caroline hilflos, griff nach seinem Arm.
    Doch er wich ihr

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