Wenn der Wind dich ruft
Weiblichkeit nicht verloren hast, kleiner Bruder.«
Das frische Loch in seiner Seidenweste betastend, warf ihm Julian einen finsteren Blick zu. »Es wird dich nicht überraschen zu hören, dass ich bei meinem Schneider ebenso beliebt bin.«
An Portias Schlafzimmertür ertönte ein Klopfen, höflich, aber mit Nachdruck.
Ihre einzige Antwort bestand darin, sich tiefer in die Kissen am Fenster zu kuscheln, die Daunendecke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte, bis zum Kinn hochzuziehen. Vor dem Fenster begann der perlmuttfarbene Schimmer des Morgengrauens die Härte der Nacht zu verwischen.
Sie hörte ein leises Knarren, als die Tür sich öffnete und gleich darauf wieder schloss.
Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Weißt du, dass es Zeiten gegeben hat, in denen ich mir gewünscht habe, du seiest ein Vampir, damit du nicht in mein Zimmer kommen kannst, ohne dass ich dich dazu eingeladen habe?«
»Hast du das etwa noch nicht gewusst?«, fragte Caroline und ließ sich auf der Bank vor dem Fenster nieder. »Ältere Schwestern verfügen über mehr Macht als Vampire. Noch nicht einmal Knoblauch oder Kruzifixe können uns fernhalten, wenn wir entschlossen sind, uns in die Angelegenheiten anderer einzumischen.«
Sie zog ein mit einem Monogramm besticktes Taschentuch aus ihrem Kleid und hielt es Portia hin. Es war dasselbe Taschentuch, das Adrian Caroline bei ihrem ersten Zusammentreffen gegeben hatte. Portia nahm es an und schnaubte laut hinein. Derzeit hatte sie keine Geduld für sentimentales Getue.
Sie betupfte ihre gerötete Nase. »Jetzt, da es mir gelungen ist, den verlorenen Sohn heimzubringen, solltest du da eigentlich nicht das gemästete Kalb schlachten? Oder hat er sich angeboten, das selbst zu übernehmen?«
»Ich glaube nicht, dass er dazu die Gelegenheit hatte. Adrian hat sich den größten Teil der Nacht mit ihm im Arbeitszimmer eingeschlossen.«
»Daher all der Lärm und die lauten Stimmen. Ich bezweifle, dass dort noch Putz an der Decke übrig ist.«
Caroline streckte die Hand aus und tätschelte ihr das Knie durch die Decke. »Adrian hat mir erzählt, was in Charing Cross geschehen ist.«
»Ach ja? Hat er dir auch gesagt, dass, während ich Julian nachgetrauert und mich seinetwegen lächerlich gemacht habe, er sich im Bett mit einer Vampirin vergnügt hat, neben der Lucretia Borgia wie die Jungfrau Maria aussieht? Eine Hexe, die auch noch zufällig seine Seele in ihrem Retikül spazieren trägt.«
Caroline nickte. »Ich denke, so etwas hat er erwähnt. Larkin kommt heute Nacht nach Sonnenuntergang zurück, sodass sie besprechen können, was wegen ihr unternommen werden sollte.«
»Gut«, erwiderte Portia knapp. »Je eher sie weg ist, desto früher kann Julian zu dem Leben zurückkehren, das er gewählt hat.«
Caroline seufzte, zögerte, weiterzusprechen. »Ich versuche nicht, Entschuldigungen für ihn zu finden, Kleines, aber als er gegangen ist, um seine Seele zu suchen, warst du kaum mehr als ein ...«
»Nein!«, warnte Portia sie und hob drohend einen Finger. »Wenn du >Kind< sagst, werde ich einen Wutanfall kriegen und so laut schreien, dass Wilbury mich in den Besenschrank sperren muss, genau wie die Zwillinge.«
»Kannst du ihm ernsthaft einen Vorwurf daraus machen, dass er gegangen ist? Was hatte er dir schon zu bieten außer Gefahr und Herzschmerz?«
»Was willst du damit sagen?« Portia kämpfte gegen die neuerlich aufwallenden Tränen an. »Dass es edel von ihm war, seinen Körper auf dem Altar der Ausschweifungen und der Lotterei zu opfern? Dass er das alles für mich getan hat?«
»Er wusste, er konnte nicht ändern, was er war. Noch nicht einmal für dich.«
»Ah, aber da genau liegt das Problem, Caroline. Nachdem er sie gefunden hatte, hätte er es ändern können. Für mich. Aber das hat er nicht getan.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe alle diese Jahre damit vergeudet, zu glauben, ich sei die Einzige, die ihn retten konnte, dabei wollte er in Wahrheit gar nicht gerettet werden.«
Caroline strich ihr sachte eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. »Vielleicht war er nicht davon überzeugt, dass er es verdient, gerettet zu werden.«
Aus Sorge, unter der Last des Mitgefühls ihrer Schwester erneut zusammenzubrechen, zog Portia die Decke fester um ihre Schultern und starrte erneut aus dem Fenster. »Vielleicht hatte er Recht.«
Während Caroline sich erhob und leise den Raum verließ, verfolgte Portia, wie die Schatten der Nacht sich verzogen und die letzten Reste
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