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Wenn der Wind dich ruft

Wenn der Wind dich ruft

Titel: Wenn der Wind dich ruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
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ihrer Jungmädchenträume mit sich nahmen.

9
    Portia blieb an diesem Tag bis weit nach Mittag in ihrem Schlafzimmer. Sie hätte sich hier gerne noch länger versteckt, aber sie wollte nicht, dass ihre Familie glaubte, sie schmollte oder litte gar an gebrochenem Herzen. Schließlich hatte sich die Sonne hinter den Wolken hervorgekämpft und würde erst in einigen Stunden untergehen, sodass sie wusste, es bestand keine Gefahr, Julian über den Weg zu laufen. Nachdem sie fünf Jahre darauf gewartet hatte, dass er heimkam, war es schwer zu glauben, dass sie nun unter demselben Dach wohnten.
    Sie stieg anmutig die lange weit geschwungene Treppe nach unten, eine Hand auf dem Geländer. Es war schierer Zufall, dass sie ein Kleid angelegt hatte, das ihr besonders gut stand — ein Tageskleid aus Spitalfielder Seide in genau demselben Blauton wie ihre Augen. Die hoch angesetzten Taillen der Kleider waren im letzten Jahrzehnt wieder allmählich nach unten gerutscht, sodass der Schnitt ihre zierliche Taille und ihren weniger zierlichen Busen betonte. Der spitzenbesetzte Saum ihres Hemdes war am Rande des Ausschnittes zu sehen. Sie hatte heute auf das breite Halsband, das sie gewöhnlich trug, verzichtet und stattdessen einen Schal aus japanischer Gaze gewählt, ihn zweimal um den Hals geschlungen, sodass die Enden wie hauchdünne Flügel hinter ihr wehten.
    Mit einer Hand berührte sie ihr Haar. Zwar hatte sie ihrer Zofe nicht eigens aufgetragen, sich besondere Mühe mit der Frisur zu geben. Trotzdem waren dreißig Haarnadeln zum Einsatz gekommen, um die schweren Locken auf ihrem Kopf festzustecken. Ein kunstvoll arrangierter Wasserfall von schimmernden Locken umrahmte nun ihr Gesicht.
    Sie schritt an dem goldgerahmten Spiegel in der Eingangshalle vorbei, blieb stehen und ging wieder zurück, konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich Farbe in die Wangen zu kneifen. Warum sollte sie nicht versuchen, möglichst gut auszusehen?
    Schließlich konnte eine junge Dame nie wissen, wann ein aussichtsreicher Junggeselle zu Besuch kam.
    Sie reckte ihr Kinn, drehte es erst nach rechts, dann nach links, um ihr Spiegelbild zu bewundern, als plötzlich eine kadaverähnliche Gestalt hinter ihrer linken Schulter auftauchte.
    »Wilbury!«, rief sie und legte sich eine zitternde Hand über ihr hämmerndes Herz. »Sie müssen aufhören, sich so anzuschleichen. Wenn Sie kein Spiegelbild besäßen, hätte ich schwören können, Sie seien ein Vampir.«
    Obwohl das faltige Gesicht des Butlers in die gewohnten finsteren Falten gelegt war, glomm in seinen rheumatischen Augen unverwechselbar Freude. »Haben Sie gehört, dass Master Julian wieder zu Hause ist?«
    Portia drehte sich um und starrte ihn an. Ihr war klar, er wusste, dass ihr sehr wohl bekannt war, dass Julian sich im Haus aufhielt. Das Alter hatte den Augen des Butlers nichts von ihrer Schärfe genommen, ebenso wenig wie sein Hör- oder Denkvermögen beeinträchtigt war. Vermutlich wusste er außerdem, wann genau sie letzte Nacht aufgehört hatte, ihr Kopfkissen mit Tränen zu tränken, und schließlich in einen traumlosen Schlaf gefallen war.
    »Ich habe gerüchteweise so etwas gehört«, sagte sie. »Kann ich davon ausgehen, dass er im Weinkeller schlummert?«
    Wortlos hob Wilbury seinen Arm und deutete mit einem langen, dürren Finger auf die Tür zur Bibliothek. Alles, was noch fehlte, wäre eine Sense und ein wehender schwarzer Umhang, und er wäre als der Tod persönlich durchgegangen.
    Ihr Unbehagen resolut herunterschluckend, beäugte Portia die hohe Eichentür, als sei es der Eingang zu ihrer eigenen Gruft. Sie hatte nicht damit gerechnet, so früh am Tag mit der Versuchung konfrontiert zu werden. Aber vielleicht war es auch gut so. Welch besseren Weg gäbe es schließlich, sowohl sich selbst als auch ihrer Familie zu beweisen, dass sie endlich frei war von Julians verführerischem Bann?
    Sie schenkte Wilbury ein strahlendes Lächeln, als hätte sie keine Sorge in der Welt. »Ich denke, ich schaue einmal kurz vorbei, um zu sehen, ob er es gemütlich und bequem hat.«
    »Das wäre wirklich überaus zuvorkommend von Ihnen, Miss.« Der Butler entblößte seine gelben Zähne zu einem verzerrten Lächeln.
    Portia machte zögernd zwei Schritte auf die Tür zu, dann wandte sie sich um, entschlossen, Wilbury davon zu unterrichten, dass sie es sich anders überlegt hätte und Master Julian besser ungestört bleiben sollte — wenigstens für die nächsten hundert Jahre oder so.
    Der

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