Wenn der Wind dich ruft
anketten, damit du wie ein tollwütiger Hund elend zugrunde gehst. «
Er schloss seine Hände um ihre Arme. Seine Finger gruben sich schmerzlich in ihre zarte Haut. »Verflucht, Mädchen, du musst auf mich hören! Ich weiß nicht, wie lange ich mir noch trauen kann, dir nichts ... anzutun.«
»Du kannst von mir trinken«, drängte sie ihn. »Nur genug, um am Leben zu bleiben, bis jemand uns retten kommt. «
Er machte ein ersticktes Geräusch in seiner Kehle, und sie begriff zum ersten Mal, dass es um mehr ging als Durst auf Blut. » Verstehst du es nicht? Wenn ich mir erlaube, von dir zu kosten, werde ich nicht mehr in der Lage sein aufzuhören. Nicht, ehe es für uns beide zu spät ist.« Er hob eine Hand zu ihrem Gesicht, strich mit zittrigen Fingern und unendlich zärtlich eine zobelfarbene Locke von ihrer Wange. »Bitte, Kleines, ich flehe dich an ... «
Portia schloss die Augen, um sein Flehen nicht zu sehen. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie in der Lage, ihm unter Tränen ein Lächeln zu schenken. »Himmel, Julian, du weißt doch, dass ich alles für dich täte. Alles. «
Die Drohung der tödlich scharfen Zähne ignorierend, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und drückte ihre weichen Lippen auf seine ...
Portia öffnete die Augen — und schaute in den Betthimmel über sich. Ihr Herz und ihr Körper bebten unter einem sehnsüchtigen Schmerz. So seltsam es schien: Sie wollte den Traum zurückholen, in die Gruft zurückkehren und zu ihrem früheren Ich. Das Mädchen war sich seiner so sicher gewesen, gewillt, alles zu opfern — sogar ihr Leben — für den gut aussehenden Jungen, den sie voller Unschuld und doch mit solcher Hingabe geliebt hatte.
Der Traum diente dazu, sie daran zu erinnern, dass Julian einmal das gleiche Opfer hatte bringen wollen. Dass er sein Dasein als seelenlose Hülle ohne Hoffnung auf Rettung beendet hätte, statt das Risiko einzugehen, dass ihr etwas geschah. Sie rollte sich auf die Seite, drückte sich das Kissen an die Brust in einem vergeblichen Versuch, den Schmerz in ihrem Herzen zu lindern, und stellte sich die Frage, was sich geändert hatte. Womit band diese Valentine ihn an sich?
Sie kniff die Augen zu, wusste, es wäre wesentlich klüger, sich nach traumlosem Schlaf zu sehnen. Aber ehe ihr dieser Wunsch erfüllt werden konnte, drangen die Töne einer Melodie aus der Ferne an ihr Ohr. Ohne das Kissen loszulassen, setzte sie sich auf, blinzelte verwundert. Hatte ihr Traum irgendwie einen anderen Geist aus ihrer Vergangenheit heraufbeschworen?
Sich ihren seidenen Morgenmantel über ihr Nachthemd werfend, kletterte sie aus dem Bett und ging zur Tür. Sie zog sie vorsichtig auf, rechnete halb damit zu entdecken, dass die Musik nur in ihrer überreizten Phantasie existierte. Aber sie wurde etwas lauter — ein bittersüßes Schlaflied, das für die träumenden Bewohner des Hauses gespielt wurde.
Eilig knotete sie den Morgenrock zu, dann hastete sie die Stufen hinab. Statt unheimlich zu sein, schienen die Schatten der leeren Flure sie willkommen zu heißen, sie mit jedem Schritt weiter gefangen zu nehmen. Dann stand sie vor dem Musiksalon und öffnete die Tür, und ihre dürstenden Sinne sogen die Töne in sich auf, die dem herrlichen Konzertflügel unter dem Fenster entstiegen.
Julian saß an dem Instrument, und seine Finger glitten mit der Anmut eines Liebhabers über die Klaviatur, entlockten ihm Musik, die sowohl sanft als auch voller Leidenschaft war. Das Sonnenlicht mochte Julians todbringender Feind sein, aber das Mondlicht, das durch die großen Fenster strömte, vergötterte ihn. Die silbrigen Strahlen küssten das schimmernde Schwarz seiner Haare und liebkosten sein kräftiges männliches Profil, malten seine Umrisse wie mit einem silbernen Strich nach.
Portia musste einen Moment nachdenken, um das Stück, das er spielte, als den ersten Satz von Mozarts »Requiem« zu erkennen, den einzigen Teil davon, den der Komponist vor seinem tragisch frühen Tod im Alter von fünfunddreißig Jahren beendet hatte. Das Requiem hatte sie mehr als einmal von mächtigen Orgeln in großen Kathedralen gehört, doch noch nie auf dem Klavier und nie mit so viel Gefühl, so ergreifend. Wenn es von Julians Händen gespielt wurde, war es nicht schwer zu glauben, dass es — wie die Legende es behauptete — von einem geheimnisvollen Fremden bei dem Künstler in Auftrag gegeben worden war, der sich später als Vorbote von Mozarts Tod
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