Wenn der Wind dich ruft
entpuppte. In Julians Interpretation war das Stück sowohl Triumphmarsch als auch Klagegesang — das Lied eines Mannes, der seine eigene Sterblichkeit feierte und betrauerte, ehe seine Stimme für ewig verstummte.
Er ließ seine ganze Sehnsucht und seine ganze Leidenschaft in die Musik einfließen, bevor er sie zu einem dramatischen Schlusspunkt brachte. Der letzte Ton hing in der Luft wie das Läuten einer Kirchenglocke zur Mitternacht am Ende eines kalten Tages.
Als er verklungen war, erklärte Portia leise: »Für einen Mann, der behauptet, seine Seele gehöre dem Teufel, spielst du immer noch wie ein Engel.«
Er schien nicht das geringste bisschen überrascht, dass sie auf der Schwelle stand. »Es ist eines meiner Lieblingsstücke. Kennst du die Worte, die an den Rand geschrieben standen — Fac eas, Domine, de morte transire ad vitam?« zitierte er in flüssigem Latein.
Portia war nicht annähernd so gut in der alten Sprache wie er; sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, über Kobolde und Feen zu lesen, um sich mit so trockenen Schulfächern abzugeben. »Lass unsere Seelen, o Herr, durch den Tod ... das ewige Leben finden.«
»Schade, dass ich den armen Kerl nicht warnen konnte. Ewiges Leben ist nicht so erstrebenswert wie man meinen möchte. Bist du gekommen, mir die Notenblätter umzublättern, Kleines?«, fragte er, und sein schiefes Lächeln erinnerte sie an die vielen frohen Stunden, die sie vor Jahren mit genau dieser Beschäftigung auf Trevelyan Castle verbracht hatte, bevor sie herausfand, dass er ein Vampir war.
»Ich hätte geschworen, du spielst aus dem Gedächtnis.«
»Stimmt.« Er nickte zu dem Stapel Notenblätter, die aufgeschlagen auf dem Ständer lagen. »Aber dieses Stück hier kenne ich nicht annähernd so gut. Ich könnte Hilfe gebrauchen.« Er rutschte auf der Mahagoni-Klavierbank zur Seite, machte Platz für sie. Als sie zögerte, fügte er hinzu: »Als meine ewigliche Verlobte gibt es keinen Grund, an deiner mädchenhaften Scheu festzuhalten.«
Unfähig, dem herausfordernden Funkeln seiner Augen zu widerstehen, durchquerte Portia den Raum und ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. Sie griff an ihm vorbei, um die erste Seite umzublättern, entschlossen, nicht vor dem intimen Druck seines Schenkels an ihrem zurückzuscheuen oder dem flüchtigen Kontakt seines Ellbogens mit ihrer Brust.
Während sie zusah, wie er mit geschickten Händen eine berückend zärtliche Melodie spielte, war es nur zu leicht, sich vorzustellen, wie sie ebenso geschickt über ihre Haut strichen. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, welch atemlose Melodie er ihren Lippen mit seinen langen Künstlerfingern entlocken würde. Sie spürte, wie ihr Röte in die Wangen stieg, riskierte einen verstohlenen Blick in sein Gesicht und entdeckte, dass er sie anschaute, nicht die Notenblätter.
Ein Verdacht beschlich sie. Sie blätterte absichtlich weiter, ehe er am Ende der Seite angekommen war. Er spielte weiter, ohne eine einzige Note auszulassen.
Sie räusperte sich so laut, dass es über die Musik hinweg zu hören war.
Julians Finger erstarrten über den Tasten, die Musik verstummte. »Oh, je. Ich fürchte, ich bin entdeckt.« Seine Nase streifte ihre ungezügelten Locken, als er sich vorbeugte und flüsterte: »Wenn du es unbedingt wissen musst, ich spiele ausschließlich aus dem Gedächtnis. Das habe ich immer schon — auch damals auf der Burg. Ich habe dir nur einfach nicht widerstehen können, wenn du dich vorgebeugt hast, um umzublättern, und dem Duft deiner Haare.«
Diesmal lehnte sie sich zurück, weg von ihm. »Himmel, Julian Kane, du bist wirklich unverbesserlich!« Sie bemühte sich, ihre Lippen missbilligend zusammenzupressen, konnte aber nicht verhindern, dass sich ihre Mundwinkel nach oben bogen.
Er kniff sie in die Nasenspitze. »Nur, wenn es um dich geht, Portia Cabot.«
Sie wollte ihm so gerne glauben, dass sie nichts sagte, als sein Blick von ihrer Nasenspitze zu ihrem Mund glitt. Als er sacht ihr Kinn anhob, sodass Mondlicht auf ihre vollen Lippen fiel. Als er den Kopf senkte, mit seinen Lippen über ihre strich, so leicht wie mit Schmetterlingsflügeln.
»Onkel Luja! Onkel Luja!«
Sie fuhren auseinander und drehten sich gleichzeitig um, sahen Eloisa auf der Türschwelle. Mit ihren bloßen Füßen und dem bekleckerten Nachthemd sah sie wie ein schmutziges Engelchen aus. Obwohl Portia wusste, dass sie eigentlich Dankbarkeit über die rechtzeitige Unterbrechung empfinden
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