Wenn Die Nacht Anbricht
fast den Hals durchschneidet. Man tut lieber immer etwas Seife unter den Rand, damit er einem nicht die Haut aufreibt.«
Und damit, als sie über ihren wund geriebenen Hals sprach, verwandelte sie sich in einen realen Menschen für mich. Sie nannte mich beim Namen, wenn sie kam, um Jacks Verbände zu wechseln und seine Temperatur zu messen (Fieber hätte bedeutet, dass er irgendwo eine Entzündung haben musste, erklärte sie mir), und ich erfuhr von ihren drei jüngeren Schwestern in Atlanta. Robin war die erste Krankenschwester in ihrer Familie, und sie hatte ihre alte Schwesterntracht aus der Krankenpflegeschule ihren Schwestern überlassen, damit diese damit spielen konnten und vielleicht auch irgendwann mal Lust bekamen, sich zu Pflegerinnen ausbilden zu lassen. »Man darf nicht drauf bauen, dass man den Mann findet, den man will«, sagte sie. »Also ist’s besser, sich selbst über Wasser halten zu können.«
Bis Jack schließlich wieder nach Hause durfte, hatte ich herausgefunden, dass sie sich in einen Anwaltsgehilfen verliebt hatte, den sie kennenlernte, als sie seinen Fuß versorgen musste. Er war in einen Nagel getreten. Wenn er um ihre Hand anhielt, würde sie wohl nicht mehr lange Krankenschwester bleiben. Doch das schien sie nicht sonderlich zu stören. Den Krankenhausregeln nach musste man entweder seine Arbeit oder den Mann aufgeben, und sie hatte offenbar nicht vor, ihn ziehen zu lassen.
Ihre Liebesgeschichte interessierte mich nicht sonderlich. Mich faszinierten vielmehr ihre makellose Uniform und ihre dreieckige Haube, die immer genau in der Mitte ihres Kopfs blieb. Mir gefiel, wie selbstbewusst sie wirkte und wie gut sie arbeitete, wie sie Jack anlächelte und ihre Hand auf seine Stirn legte, als wäre er ein Familienmitglied und nicht irgendein fremder Junge, um den sie sich kümmern musste, weil sie dafür bezahlt wurde. Ich konnte genauso werden wie sie, wenn ich wollte, ebenso wie ich eine Lehrerin werden konnte – ein Beruf, unter dem ich mir schon länger etwas vorzustellen vermochte. Miss Etheridge mit ihrer sanften Stimme war Lehrerin, wie auch ein Dutzend weiterer Frauen, die ich vom Sehen kannte. Ich kannte ihre Gesichter, ihre Stimmen und ihre Gestik. Jetzt war auch eine Krankenschwester nicht mehr nur eine Frau in einer gestärkten Schürze für mich, sondern eine solche Krankenschwester hieß zum Beispiel Robin O’Reilly.
Innerhalb kurzer Zeit wurden Birmingham und Krankenschwestern greifbare Dinge und brachten mich dazu, auch über all die anderen vagen Ideen und Namen nachzudenken, die in Wahrheit ebenso viel Inhalt haben mussten wie sie. Irgendwo hatten Amelia Earhart, Flugzeuge und Frauen mit Hosen ebenfalls eine so klare Stimme wie Miss Etheridge oder so schnelle Hände wie Mama. Dieser Gedanke war so schwerwiegend, dass mir fast der Kopf auf die Brust sackte.
Ich konnte nur eine Weile über weit entfernte Menschen und Orte nachdenken, denn dann blickte ich auf und bemerkte, dass Jack mich ansah. Mein verletzter Bruder, der im Bett lag und versuchte, gesund zu werden, war jemand, den ich kannte. Und dieser Jemand gewann ohne großen Kampf die Oberhand. Meine neuen Gedanken verflogen. Während die Stadt vor dem Krankenhaus eher überwältigend als anziehend war, fühlte ich mich in Jacks Krankenzimmer wohl. Ich saß am Bettrand und strich meinem Bruder über die Haare, was er mochte. Wir spielten stundenlang Drei gewinnt, bis seine Augen schwer wurden. Aber er war zu starrköpfig, sie zu schließen. Ich sang ihm leise »You are my sunshine« vor, wobei ihm der Teil mit dem »Please don’t take my sunshine away« nicht allzu gut gefiel, weil er glaubte, dass ich nur gehen wollte. Also sang ich stattdessen: »No one can take my sunshine away.«
Albert
Ich hatte noch nie zuvor etwas so Kleines wie meinen Jungen in diesem Krankenhausbett gesehen. Er sah aus, als könnte ihn eine Brise fortwehen. Seine Augen waren schwarz umrandet, in seinen Haaren klebte noch Blut, und Arm und Bein waren gerade frisch gegipst worden. An jenem ersten Morgen, als er im Krankenhaus aufwachte, war ich mit Leta und den Mädchen bei ihm – der erste Wochentag seit sehr langer Zeit, den ich nicht unter Tage verbrachte.
»Ich bin wie du, Pop«, sagte Jack und lächelte, wobei er eine Zahnlücke entblößte. Fröhliche Augen blickten mich aus den Schwellungen an. »Ich werd mit allem fertig, was mir zustößt. Sogar mit Lastern und so.«
Ich weiß nicht, ob er bemerkte, wie schwer es mir
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