Wenn Die Nacht Anbricht
fiel, einen zusammenhängenden Satz zu sagen und nicht zu weinen. Er redete jedenfalls weiter, ohne zu warten, bis ich mich gesammelt hatte.
»Der Doktor hat mir seine Röntgenbrille gezeigt. Mit grünem Leder und grünem Glas. Und man kann auf meinen Gips klopfen, und ich merk gar nichts. Komm schon, schlag dagegen. Mach mal.«
Er hielt mir seinen kleinen Arm entgegen und wackelte mit seinen Fingern. Ich zwang mich zu einem Lächeln und klopfte gegen den Gips. »Wenn dir jemand eine verpasst, dann kannst du ihn mit dem Ding fertigmachen.«
»Ja, Sir.«
»Er wird noch eine Woche hierbleiben müssen«, erklärte der Arzt.
Gott möge mir vergeben, aber mein erster Gedanke war, dass wir uns das nicht leisten konnten. Wir hatten keine Rücklagen. Selbst für ein neues Winterkleid für die Mädchen war nicht genügend Geld da, und ich wusste, wie hoch diese Krankenhausrechnungen werden konnten. Deshalb hatte ich mir in jungen Jahren selbst einmal einen Gips gemacht und ließ mich auch jetzt noch vom Grubenarzt behandeln. Natürlich wollte ich nicht, dass es meinem Jungen genauso erging. Sein Arm und sein Bein sollten richtig zusammenwachsen und später nicht mehr schmerzen. Doch als ich diese Worte hörte, begann sich mein Körper anzuspannen und von innen heraus zu erstarren.
»Ich möchte, dass er alles kriegt, was er braucht«, sagte ich. »Aber leider muss ich Sie trotzdem fragen: Wie viel wird mich das kosten?«
»Das müssen Sie an der Rezeption erfragen«, erwiderte er ausdruckslos. Ich sagte nichts, woraufhin er mit etwas freundlicherer Stimme hinzufügte: »Es wird so um die fünfundsiebzig Dollar sein.«
Das bedeutete mindestens vier Monate Arbeit.
»Behalten Sie ihn so lange, wie’s nötig ist«, sagte ich.
Noch ehe wir zu Hause eintrafen, wusste die ganze Stadt, was mit Jack geschehen war. Die Kumpel mussten nicht erst zur Rezeption, um genau zu wissen, was ein Krankenhausaufenthalt finanziell bedeutete. Es sprach sich schnell herum, und beinahe alle überließen mir eine ihrer Schichten, ganz gleich, was sie taten. Das mussten sie sich vom Mund absparen, und ich schloss die Augen bei dem Gedanken an diese Wohltätigkeit. Trotzdem war es besser als eine Spende. Auf diese Weise arbeitete ich zumindest für mein Geld. Ich fuhr also jeden Tag ein, während Jack im Krankenhaus war, und arbeitete meistens eine Doppelschicht. Das bedeutete viel Beladen und Abbauen, was ich auf eine Weise spürte, wie ich das noch nie erlebt hatte. Offenbar war ich durch meine Aufgaben als Steiger weicher geworden. Das Reden, Überwachen und Kontrollieren der Kumpel hatte mich fast vergessen lassen, wie hart die rein körperliche Arbeit sein konnte. Die ersten zwei Wochen nach dem Unfall war ich fast täglich in der Grube und kam letztlich auf zweihundertfünfzig Stunden im Monat.
Die erste Woche war die schwerste. Danach überkam mich eine Art Taubheit, so dass ich die Schmerzen nicht mehr so spürte. Die Müdigkeit machte mir noch mehr zu schaffen als die Schmerzen, und sie begann in der zweiten Woche überhandzunehmen. Immer wieder fielen mir die Augen zu, und meine Muskeln zuckten. Einmal traf ich nicht in die Lore, sondern schleuderte die Kohle ins Leere. Keiner sagte ein Wort. Ich fuhr fort, ohne auf meinen Körper zu achten, und nach einiger Zeit war die Schaufel genauso ein Teil von mir geworden wie meine Beine oder meine Hände.
Jack hatte früher einmal auf meine Handfläche gepasst, und sein Rückgrat war nicht größer gewesen als mein Unterarm.
Mir fiel der Kopf nach vorn, und meine Lider wurden schwer. Meine Augen brannten. Ich dachte an ein weiches Bett und an Letas Rücken, der sich gegen den meinen presste. Gedanken an saubere Haut und Sonne auf meinem Gesicht, an Klamotten, die nicht vor Schmutz und Schweiß starrten, stiegen in mir auf. Gewöhnlich dachte ich an nicht viel, wenn ich die Loren belud, sondern folgte nur dem Rhythmus des Schaufelns. Doch als Jack im Krankenhaus war, musste mein Gehirn dem stumpfen Rhythmus etwas entgegensetzen. Es geriet immer wieder ins Träumen, selbst während ich wach war und Kohle abbaute. Ich sah Jack mit runden Backen und brüllend vor mir, als ich ihn mit einer Hand wie ein Geschenk hochhielt. Dann sah ich ihn in dem Krankenhausbett und fragte mich, ob der Zahn, den er verloren hatte, noch an der Unfallstelle lag. Mehr als einmal überlegte ich, nach meiner Schicht dorthin zu gehen und danach zu suchen, doch dann kam ich wieder zu mir.
Hatte dieser
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