Wenn Die Nacht Anbricht
ich. »Ich mein das ernst.«
Er antwortete wieder nicht. Dann war er verschwunden, und statt ihm kam Ban oder Oscar oder Red oder einer der zwanzig anderen Kumpel. Ban und Oscar würden zum Abendessen kommen, wenn ich sie einlud. Sie würden mich nicht für verrückt halten. Ich konnte mir ihre Häuser, ihre Esstische und ihre Frauen vorstellen, wie diese Löffel in die Schüsseln voller Gemüse steckten. Jonahs Haus konnte ich mir weder von innen noch von außen vorstellen. Ich wusste nicht einmal mehr, wie viele Kinder er hatte. Er schien auch nicht da zu sein, damit ich ihn hätte fragen können. Stattdessen all diese anderen Gesichter. Sie waren eine Weile neben mir und dann wieder verschwunden. Ich verwandelte mich allmählich in einen dieser Balken, die den Schacht abstützten.
Es wurde gemunkelt, dass die Gewerkschaft noch immer einen Mindestlohn fordern wollte. Ich hörte nur hier und da ein Wort darüber, das aber nie laut ausgesprochen wurde. Man wusste schließlich nicht, ob die Bosse nicht auch ihre Ohren in den Gruben hatten und jeden, der die United Mine Workers erwähnte, hinauswerfen würden. Ich konnte mich nicht sonderlich dafür begeistern, auch wenn ich glaubte, dass dies ein Schritt war, den wir machen mussten, wenn wir irgendetwas verbessern wollten. Doch ich wollte nur noch nach Hause, schlafen und einen gesunden Sohn haben. Die Ideen eines John Lewis bedeuteten mir augenblicklich nicht viel. Wünsche und Bedürfnisse verdrängten jede Nacht mehr und mehr die Gedanken.
Ich sagte mir, dass es keinen Grund gab, sich zu schämen, wenn ich ins Krankenhaus fuhr und noch den Kohlenstaub unter meinen Fingernägeln und in den Falten meiner Hände und Arme hatte. Einige Leute musterten mich abfällig, aber ich hatte keine Kraft mehr, darauf zu achten.
Tess
Ich setzte mich ans Fenster und zählte die Straßenbahnen, die draußen vorbeifuhren. Jack schlief gerade, und ich wurde immer wieder von den Leuten in den anderen Betten dabei erwischt, wie ich sie ansah, während ich mich im Zimmer umblickte. Virgie wollte Jack keinen Moment lang alleine lassen, und für uns beide sowie Mama war im Grunde nicht genügend Platz an seinem Bett. (Mama hatte wenigstens einen Stuhl. Sie sagte, er sei so bequem wie ein Bett, und sie schliefe richtig gut darauf.)
Ein Mann, der zwei Betten von Jack entfernt lag, hatte ein schwarzes Bein, das unter seiner Decke herauslugte. Neben ihm befand sich ein Junge etwa in Virgies Alter, der die ganze Zeit über leise stöhnte. Also setzte ich mich auf die Fensterbank und blickte auf die Straße und die Straßenbahnlinie hinunter. Es war ein großes Fenster, das breit genug war, damit ich mich an die eine Seite lehnen und meine Knie hochziehen konnte.
»Das ist eigentlich nur eine«, erklärte eine Stimme hinter mir. Tante Celia.
Ich drehte mich um und schlang meine Arme um sie, ehe ich verstand, was sie gesagt hatte. »Eine was?«
»Eine Straßenbahn. Die gleiche fährt immer im Kreis und kommt dann wieder hier vorbei.«
Ich hätte gern gewusst, wie sich die Straßenbahn eigentlich vorwärtsbewegte, da sie aussah, als wäre sie halb Zug und halb Automobil. Aber ich kam mir bereits dumm genug vor, geglaubt zu haben, es wären sechzehn verschiedene Straßenbahnen vorbeigefahren.
»Jack ist geröntgt worden«, erklärte ich stattdessen. »Er hat gesagt, es ist ein bisschen so wie bei diesem teuren Schuhmacher in Jasper, wo man die Füße in den Schuhen sehen kann. Diesmal gab es eine Leinwand oder so, und man musste nicht durch diese Brillendinger schauen.«
Mir gefiel das Krankenzimmer besser, jetzt da Tante Celia darin war. Zuvor hatte es sich kalt angefühlt, weiß und metallisch, mit bleichen Menschen und ernst dreinblickenden Krankenschwestern, die mich getadelt hatten, als ich versucht hatte, Jack zum Lachen zu bringen, indem ich ihn am Bauch gekitzelt hatte. Selbst die Krankenschwester, die Virgie mochte, wirkte nervös, weil ich zu zappelig war.
Wir hatten viele Besucher. Manche von ihnen kamen zu uns nach Hause und brachten Essen vorbei, andere kamen auch ins Krankenhaus. Nicht viele Leute hatten ein Automobil, deshalb lag oft ein Haufen Essen auf der Veranda, wenn wir zurückkamen. Außerdem besuchten ein oder zwei Familien Jack, wenn wir bei ihm waren. Zum ersten Mal seit dem Sommer erwähnte niemand mehr das tote Baby. Alle redeten immer nur davon, wie wundervoll Jack sei und wie schrecklich dieser Lastwagenfahrer. Zwischen diesen beiden Themen wechselten
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