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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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trat.
    Auch zu Hause war die Luft voller Staub, doch in Birmingham war das etwas ganz anderes. Meine Nase und mein Hals waren blockiert, sobald ich mich im Freien befand. Und obwohl es nirgendwo auch nur eine Spur von roten Ziegeln gab, wurden meine weißen Handschuhe sofort schmutzig. Sie wurden von einer grauen Schmutzschicht bedeckt, auch wenn ich nichts anfasste. Es war geradezu unheimlich, zu der schweren Wolkendecke am Himmel über der Stadt hinaufzuschauen, wo man kaum normale weiße Wolken fand, und sich dann umzublicken und die Satinschühchen zu bemerken, mit denen die Frauen hier oftmals durch die schmutzigen Straßen liefen. Die Straßen von Birmingham brachten mich mehr zum Nachdenken als die von Carbon Hill.
    Ich kam mir wie eine Entdeckerin vor, während ich an mehr Modellen A und Modellen T vorbeikam, als ich sie jemals gesehen hatte. Ich war wie Kolumbus bei seiner ersten Begegnung mit den Indianern. Als wäre ich irgendwo falsch abgebogen und in einer fremden Welt mit einem anderen Himmel, einer anderen Luft und einer anderen Landschaft gelandet – alles war gepflastert, nirgendwo war auch nur ein Grashalm zu sehen. Auch die Gebäude, die sich der Dunstglocke entgegenreckten, waren anders. Hoch und schmal wie Bleistifte sahen sie so aus, als müssten sie jeden Moment umfallen. Sie versperrten die Sicht auf Teile des Himmels, und schon bald stellte ich fest, dass sie nachts auch die Sterne unsichtbar machten. Hinter den hohen Gebäuden drängten sich die Schlote in die Stadt. Einige Blocks von der First Avenue entfernt spuckten die Hochöfen der Firma Sloss Funken und Flammen in die Luft und entfachten so ein Feuerwerk, das ich von der Straße aus sehen konnte. Wo auch immer ich hinblickte, überall wurde etwas hergestellt, und die Überreste stiegen in den Himmel auf.
    Mir wurde auf einmal bewusst, wie klein Carbon Hill war. Diesen Ort hätte ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen ausdenken können. Tess hatte zwar eine lebhafte Phantasie, aber ich nahm an, dass nicht einmal sie in der Lage gewesen wäre, sich so etwas auszumalen. Es störte mich nicht sonderlich, dass ich mir so etwas nie hätte vorstellen können. Aber es irritierte mich, überhaupt nicht auf die Idee gekommen zu sein, dass es einen solchen Ort geben könnte. Carbon Hill hatte mich warm und wohlig umgeben, und mir wäre nie im Leben eingefallen, es zu verlassen. Birmingham gefiel mir zwar nicht, aber ich fand doch, dass ich davon wissen oder mir zumindest ein paar Gedanken hätte machen müssen. Ich dachte an die anderen Orte, die nur Namen für mich waren: Grand Ole Opry wurde für das Radio in einer riesigen Stadt namens Nashville aufgenommen, die genauso aufregend und unvorstellbar war wie Washington, D. C., oder England oder Montgomery. An diesen Orten gab es keine Menschen, die auf ihren Veranden saßen, oder Grillen, die nachts zirpten, oder Kinder, die vor den Häusern spielten. Das Einzige, was sie hatten, waren zwei oder drei Silben mit nichts dahinter. Ebenso wie Amelia Earhart, die über den Atlantik flog. Oder Präsident Hoover und Gouverneur Graves. Alles nur Worte und Ideen, sonst nichts.
    Genauso wie die Krankenschwestern. Ärzte kannte ich schon vorher, aber ich hatte noch nie eine Krankenschwester getroffen. Zuerst sahen sie alle gleich aus, als sie mit ihren steifen Schürzen und den blauweißen Kleidern um Jacks Bett herumflatterten. Jeder Zoll von ihnen war gebügelt und gestärkt – von ihren Lätzen über ihre Schürzen bis hin zu den Hauben. Ich fragte mich, wie es ihnen gelang, alles so weiß zu halten, obwohl sie von Menschen umgeben waren, die immer wieder bluteten. Während der ersten zwei Tage sahen sie ständig nach Jack, einerseits da jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren konnte und andererseits weil er so niedlich war. Jedenfalls vermutete ich, das spielte auch eine Rolle. Nach einer Weile fiel mir auf, dass eine junge Schwester mit Sommersprossen und üppigem Haar unter ihrer Haube am häufigsten bei ihm war.
    »Wie schaffen Sie’s, alles so grade hinzukriegen?«, fragte ich sie schließlich und überraschte sie damit genauso wie mich selbst. Sie antwortete nicht gleich, bis ich hinzufügte: »Ich mein Ihre Kleidung. Sie ist so perfekt. Sogar der Kragen.«
    »Wir bügeln sie, solange sie noch feucht ist und zwar auf einem breiten, harten Brett. Dann verknittert sie nicht«, erwiderte sie und beugte sich über Jacks Bett zu mir. »Und der Kragen. Der muss so scharf sein, dass er

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