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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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schluckte, als würde ich bitteren Hustensaft einnehmen. Albert und ich sprachen auf dem ganzen Weg ins Krankenhaus kein Wort.
     
    Tess
    Papa wollte nicht gegen die Baufirma klagen. Er meinte, was geschehen sei, sei geschehen. (Seine Augen waren rot, was manchmal durch die Luft in den Gruben geschah. Doch sie wirkten dadurch nicht hässlicher, sondern noch blauer als sonst.) Er ging neben mir in die Hocke und erklärte, dass Jack verletzt worden sei und zwar sehr schwer, und für eine Weile konnte ich nur an seine Augen denken, die wie Himmel und Rosen aussahen.
     
    Virgie
    Mama und Papa erlaubten uns nicht mitzukommen, als sie dem Krankenwagen hinterherfuhren. Sie hielten bei Mrs. Hudson, um sie zu bitten, sich um uns zu kümmern, und so saßen wir da und schwiegen, während Mrs. Hudson versuchte, sich mit uns über Belanglosigkeiten zu unterhalten. Wir konnten nichts tun außer warten, aber das schien uns viel Kraft zu kosten. Es war anstrengend, höflich zu sein und ihr zuzuhören. Ich musste sie lange überreden, bis sie sich schließlich bereit erklärte, zu ihrer eigenen Familie zurückzukehren und mich das Abendessen für uns beide zubereiten zu lassen. Endlich willigte sie ein. Ich briet Maiskuchen mit Kruste, um Tess etwas Gutes zu tun und selbst eine Weile beschäftigt zu sein. Aber wir brachten beide nicht viel herunter.
    Ich rechnete es im Nachhinein Mrs. Hudson hoch an, dass sie uns nicht erzählte, was man in der Stadt so munkelte. Nachdem sie gegangen war, kamen nach und nach die anderen Nachbarn und wollten wissen, ob wir schon etwas gehört hätten, obwohl sie sehen konnten, dass unser Automobil noch nicht zurück war. Sie sagten, dass sie für Jack beten und »inbrünstig hoffen« würden, dass er »keine inneren Blutungen« hätte. Oder dass er »mit Gottes Willen nicht für den Rest seines Leben ein Krüppel« sein müsse. Schon bald machten wir die Lichter aus und gingen nicht mehr an die Tür, wenn es klopfte.
    Mama und Papa kamen nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Beide schlichen gebeugt ins Haus. Sie schafften es zu lächeln, als wir ihnen entgegenkamen. »Macht euch keine Sorgen«, sagte Mama. »Er wird wieder ganz der Alte sein.«
    Er hatte keine inneren Blutungen. Jedenfalls waren sich die Ärzte dessen ziemlich sicher. Jack hatte sich zwei Rippen gebrochen, aber sie hatten sich nicht in seine Lunge gebohrt. Ein Bein und ein Arm waren ebenfalls gebrochen, und sein Kopf war insoweit in Mitleidenschaft gezogen, als er eine große Schwellung hatte und sein Gesicht auf dem Kies aufgerissen worden war. Diese Aufzählung klang schlimm genug. Doch als Tess und ich am nächsten Tag die Schule schwänzen und ihn besuchen durften, kam sie mir wie hohle Worte vor. Als ich sein Gesicht sah – Augen, Nase, Mund und Wangen –, war zwar alles noch da, aber irgendwie an einer anderen Stelle als zuvor. Angeschwollen, schwarz, blau und violett, wirkte er, als wäre er durchgeschüttelt worden und danach nichts mehr an den richtigen Platz zurückgekehrt. Zumindest hatte sich sein Lächeln nicht verändert, auch wenn er jetzt mehr Zahnlücken hatte.
    Ich musste Mama anflehen, mich ein oder zwei Tage länger an sein Bett setzen zu dürfen. Sie erlaubte mir nur, noch einen weiteren Schultag zu versäumen, doch dafür verbrachte ich die kommenden zwei Wochenenden mehr oder weniger durchgehend in Norwood. Mama war die ganze Zeit über da und übernachtete auch immer wieder im Krankenhaus. Papa musste natürlich arbeiten. Er fuhr Mama nach Birmingham, fuhr dann zum Bergwerk, holte sie danach wieder ab und brachte sie nach Hause. Und das Gleiche am nächsten Tag.
    Es war das erste Mal, dass ich in Birmingham war. Als wir am Krankenhaus ankamen, wollte ich zuerst nicht aussteigen. Ich gehörte nicht hierher – nicht nur wegen des fremden Ortes, der Größe der Stadt und des Lärms. Nein, auch die Menschen waren anders. Als wir durchs Zentrum fuhren, sahen die Vorübergehenden aus, als wären sie gerade aus einem Modemagazin gestiegen. Die Mädchen trugen die hübschesten Kleider, so dass die Straßen eine große Parade aus Chiffon und Crêpe Georgette zu sein schienen. Rosa und blau und lavendelfarben – wie pastellfarbene Ostereier. Die Männer trugen Anzüge mit derart glänzenden Schuhen, dass man sich darin spiegeln konnte. Sie bewegten sich alle, als hätten sie etwas außerordentlich Wichtiges zu tun.
    »Ist anders, was?«, meinte Papa das erste Mal, als ich auf einen Birminghamer Bürgersteig

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