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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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stürzen. Normalerweise steckte sie lieber zuerst einmal einen Zeh hinein.
    Sie beobachtete die Glühwürmchen und sah mich nicht an. »Ich will nicht, dass du noch länger Albträume hast, Nervensäge. Und es ist richtig. Um dem armen Baby einen Namen zu geben.«
    Das erklärte jedoch nicht, warum sie Tante Celias Idee so gut fand. Sie hatte seit Tante Celias Besuch nicht viel gesagt, und ich wusste, dass sie nachdachte. Virgie konnte noch nie gleichzeitig denken und reden. Aber nach dem ganzen Überlegen – wie auch immer das ausgesehen haben mochte – wollte sie jetzt offenbar auf der Stelle anfangen und schlug die nächsten Schritte vor, als hätten wir es mit einer Mathematikaufgabe zu tun.
    »Ich weiß nicht, ob ich das will«, sagte ich. »Ich will lieber nicht mehr dran denken.«
    Jetzt sah sie doch zu mir hoch. »Du willst nicht wissen, wer’s getan hat?«
    Ich wandte den Blick ab und schluckte, damit sich mein Mund weniger trocken anfühlte. Auch ich hatte über das nachgedacht, was Tante Celia gesagt hatte, und es bedrückte mich. Ich war zu selbstsüchtig, um ihrem Vorschlag zu folgen und für das Kind Verantwortung zu übernehmen. Ich wollte einfach nur meinen Brunnen, meinen Fluss und meine normalen Träume zurück. An manchen Abenden, wenn ich draußen auf der Veranda neben dem Brunnen gesessen hatte, war mir dieser Ort als das Schönste und Vollkommenste vorgekommen, das es auf der Welt gab. Doch je länger ich an das Baby dachte, desto hässlicher wurde alles. Ich wollte nicht mehr daran denken.
    »Willst du nicht wissen, warum sie’s getan hat?«, hakte Virgie nach.
    »Warum lassen wir’s nicht einfach sein, Virgie? Warum vergessen wir’s nicht?«
    »Weil du’s nicht einfach vergessen kannst«, erwiderte sie. »So was löst sich nicht wieder in Luft auf und verschwindet von selbst.«
    »Vielleicht schon. Das kannst du nicht wissen, Virgie.«
    »Denk an das Baby, Tess. Denk dran, was Tante Celia gesagt hat – es will, dass du ihm hilfst.«
    Ich war diesem Baby nicht dankbar, dass es mich derart aus der Fassung gebracht hatte, und ich hatte deshalb eigentlich auch keine Lust, ihm zu helfen. Ich glaubte eher, dass mir der Junge, wenn er mich hätte trösten wollen, andere Träume geschickt hätte – Träume von Bonbons und Erdnussbutter und Limonade. Wenn wir ihm andererseits einen Namen, eine Mama, ein Haus und ein Leben geben würden, wäre er vielleicht bereit, den Brunnen in Frieden zu lassen. Und dann würde der Ort wieder mir gehören.
    »Glaubst du, das Baby kommt in den Himmel und lässt mich in Ruhe, wenn ich ihm helfe?«
    Ich konnte deutlich sehen, dass Virgie am liebsten erklärt hätte, dass der Junge bereits im Himmel war, weil es so etwas wie Geister nicht gab. Aber gleichzeitig wollte sie auch, dass ich nicht länger zögerte und zauderte, sondern mitmachte. Nachdem sie eine Minute auf ihrer Unterlippe gekaut hatte, war sie für eine Antwort bereit. »Alle möchten einen Namen und ein richtiges Begräbnis bekommen.«
    Wenn sich nichts änderte, würde das Baby in dem Teil des Friedhofs begraben werden, wo die bedauernswerten Seelen lagen, die im Leben nichts gehabt hatten – und danach nicht einmal einen Grabstein bekamen. Diese Vorstellung quälte mich. Aber ich hatte auch das Gefühl, sie hätte meine Frage noch nicht beantwortet.
    »Und dann würde er mich endlich in Ruhe lassen?«, wiederholte ich.
    »Ach, Tess! Da gibt es kein Regelbuch«, regte sie sich auf. »Hör zu. Bisher versuchst du nur, nicht mehr dran zu denken, und hoffst, dass es von selber weggeht. Trotzdem hast du Albträume. Es klappt also nicht.« Sie blickte wieder in die Dunkelheit hinaus und drehte sich dann zu mir um. Sie fasste nach meinem Fußknöchel, der für sie am leichtesten zu erreichen war.
    »Du musst nicht wütend auf das Baby sein. Die Mutter hat Schuld.«
    Sie hatte Recht. Diese Frau hatte bisher nicht die geringsten Schwierigkeiten bekommen, das war nicht gerecht. Stattdessen warf ich mich jede Nacht unruhig im Bett hin und her und ächzte und stöhnte, während sie wahrscheinlich tief und ruhig schlummerte. Ich konnte sie mir genau vorstellen, mit wahnsinnigen Augen und Pockennarben und vor sich hin kichernd, wenn sie in völliger Dunkelheit auf ihrem schmalen, harten Bett einschlief. Während sie einnickte, tastete sie mit einer ihrer kräftigen Hände und ihren langen Krallenfingernägeln nach dem leeren Platz neben ihr, wo früher einmal ein Baby gelegen hatte. Und jedes Mal, wenn

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