Wenn Die Nacht Anbricht
machte mich nervös. Seine Familie hatte viel Geld, und seine Kleidung hatte bestimmt mehr als meine, Tess’ und Jacks zusammen gekostet.
»Ich weiß nicht.«
»Dann solltest du anfangen, drüber nachzudenken.«
Mir gefiel auch nicht, dass er sich nie als Henry vorstellte. Er sagte immer »Henry Harken Jr.«. Ich hielt das für hochmütig. Einen Moment lang beobachtete ich Ella und Lois, die vor mir herliefen. Ihre Arme berührten sich, so nahe gingen sie nebeneinander – wie ausgeschnittene Papierfiguren, die noch am Ellbogen miteinander verbunden waren. Ich kannte keine anderen Zwillinge, wusste also nicht, ob sich alle wie Spiegelbilder zueinander verhielten – in ihren Bewegungen, Gesten und ihrem Gang. Es war fast so, als hätte Gott eine Unterrichtsstunde abgehalten, zu der nur die beiden erschienen waren. Wenn Mama, Tess und ich nebeneinander liefen und die Sonne unsere Schatten vor uns auf den Boden warf, sahen wir auch so aus – wie Drillinge. Aber wir waren Bohnenstangenfrauen, nur aus Beinen und Armen und einem dünnen Mittelteil bestehend, während Ella und Lois genügend Kurven hatten, um sonntags einen Hüftgürtel zu tragen. Ich wog selbst triefend nass keine hundert Pfund.
Ella und Lois liebten es, über Jungs zu sprechen. Mir hingegen machte es keinen Spaß. Ich mochte auch nicht, wie die Jungs mich ansahen oder wie sie in einer Gruppe grölten, wenn man vorüberging. Als ob man plötzlich auf der Bühne stände und nicht wüsste, wie der Text geht. Tante Celia lebte mit Großmutter Moore zusammen, und manchmal fragte ich mich, ob das nicht ein besserer Weg war. Es schien leichter zu sein.
Großmutter Moore hatte sich von Großvater Moore getrennt, ehe ich geboren wurde. Sie ließ ihn in Fayette zurück und zog hierher in ein Haus, das Papa ihr gekauft hatte. Es war das erste Mal, dass sie in einem eigenen Haus wohnte. Auch Großvater Moores Mutter hatte sich scheiden lassen und ihren Namen sowie den Namen all ihrer Kinder wieder in ihren Mädchennamen zurückverwandelt. Deshalb hießen wir überhaupt Moore. Ihr Mann musste ihr etwas Furchtbares angetan haben, als er sie dazu brachte, ihn nicht nur zu verlassen und aus ihrem Leben zu streichen, sondern auch wieder seinen Namen loswerden zu wollen. Was auch immer das war – hätte er es nicht getan, würde wir jetzt alle Adams heißen.
Niemand redete jemals davon, was diese Männer getan hatten. Aber es waren zwei Generationen von Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen und es allein ohne Männer weiterführten.
»Wisst ihr schon, wem das Baby gehört hat?«, wollte Lois wissen, in deren Haaren die Sonne glänzte, die durch einige weniger belaubte Bäume fiel.
»Ne«, sagte ich und stieg über einen Ast. »Wir haben noch nichts weiter gehört. Und ihr?«
»Mama meint, die Frau muss ein Nichtsnutz gewesen sein.«
Ich fragte mich insgeheim, ob es auch eine Frau sein konnte, die ihr Leben in die Hand nehmen und allein weiterführen wollte und deren Baby das Einzige gewesen war, das sie noch zurückgehalten hatte. Ich hatte keine Albträume so wie Tess. Die Bilder der Frau und ihres Säuglings stiegen während des Tages vor meinem inneren Auge auf. Sie mochte vielleicht den gleichen Wald. Sie mochte vielleicht auch die kühle und feuchte Luft. Und sie hatte vielleicht das Gefühl, dies wäre der einzige Ort, der wirklich ihr allein gehörte.
»Was hast du gegen Henry?«, fragte Lois.
»Er sieht gut aus. Und ist garantiert an dir interessiert. Gute Manieren hat er auch«, fügte Ella hinzu.
»Er macht mich nervös«, erwiderte ich, obwohl ich genau wusste, dass sie mich jetzt noch weniger in Ruhe lassen würden.
»Alle machen dich nervös, Virgie! Du mit deinem Aussehen wie Mary Pickford solltest doch wissen, dass du keinen Grund dazu hast.«
»Ich seh nicht wie Mary Pickford aus.« Ich schob mir eine Nuss in den Mund und ließ mir mit dem Kauen Zeit. Ich ähnelte Papas zweiter Schwester, die in Memphis lebte und uns jedes Frühjahr mit dem Zug besuchte. Wir hatten die gleichen Haare, das gleiche Kinn und die gleiche Moore-Nase mit dem Höcker in der Mitte.
»Virgie Moore«, sagte Ella. »Du solltest dich besser dran gewöhnen, Komplimente zu bekommen. Wenn dir jemand erklärt, dass du wie aus einem Film aussiehst, dann bedank dich einfach. Hör auf, rot zu werden und steif dazustehen, als hättest du einen Stock verschluckt.«
Ich warf Lois einen hilflosen Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern.
Ich wurde zwar nicht rot,
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