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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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überhaupt nichts. Es ist nicht so, als ob sie mit riesigen rollenden Augen herumläuft. Wir müssen klug sein, wenn wir sie erwischen wollen.«
    »Ich habe nicht gesagt, dass sie rollende Augen hat.« Das war töricht.
    »Und wenn du nicht ernst sein kannst, mach ich’s eben alleine.«
    »Ich kann ernst sein«, widersprach ich. Virgie sagte nichts. »Kann ich. Ich bin sogar sehr ernst. So ernst wie auf einem Begräbnis.«
    Jetzt sah sie wütend aus.
    »So hab ich’s nicht gemeint«, sagte ich.
    Das hatte ich auch nicht. Manchmal macht man aus Versehen einen schlechten Witz. Und manchmal war mein Mund zu schnell für meinen Kopf. »Ich bin ganz ernst.«
    »Dann ist’s ja gut. Solang wir uns nicht wie zwei dumme Kinder benehmen.«
    »Nein, tun wir nicht«, bekräftigte ich hastig. »Wir sind zwei Sheriffs.«
    Sie drehte sich zu mir und nahm die Liste von meinem Schoß. »Ach, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie, nachdem sie die Namen noch einmal durchgelesen hatte. »Die drei hatten Mädchen.« Sie strich die Namen durch.
    »Was sind das für Namen?«, wollte Jack wissen, während er am Rand seines Papiers einige Kringel malte und darauf wartete, dass Virgie ihr nächstes O in das Karomuster einzeichnen würde.
    »Ach, nur Namen«, erwiderte sie. »Das hat nichts zu bedeuten.« Sie blockierte seine X-Reihe, und er vergaß, was er gefragt hatte.
    »Wie viele Leute leben in Carbon Hill, Virgie?«, wollte ich wissen.
    Sie blickte auf und kaute einen Moment lang auf ihrer Lippe. »Papa!«, rief sie dann. »Wie viele Einwohner hat Carbon Hill?«
    »Etwa dreitausend«, rief er zurück.
    Das machte mir Sorgen. »Wir kennen aber nicht alle dreitausend.«
    Sie dachte nach. »Na ja, sie hat den Jungen in unseren Brunnen geworfen. Sie muss also irgendwo hier in der Gegend wohnen. Vielleicht kennt sie uns sogar.« Sie betrachtete wieder die Liste. »Ich finde, als Erstes sollten wir herauskriegen, wie es diesen Babys hier geht.«
    »Wollen wir einfach an der Tür klopfen und fragen, ob sie sie uns zeigen können?«
    Sie überflog noch einmal die Liste. »Einige von ihnen sehen wir am Sonntag in der Kirche. Und dann fangen wir mit den restlichen an.«
    »Und du machst das, damit das Baby seinen Frieden findet?« Ich war mir noch immer nicht ganz sicher, was ihr Beweggrund war.
    Sie zögerte keinen Moment mit der Antwort. »Ich will nur wissen, ob zu viel Muttersein und Aufpassen und Putzen einen dazu bringen kann, so was zu tun.«
     
    Virgie
    In unseren Schulbüchern wurde »draußen« als Adverb bezeichnet. »Gehen wir nach draußen.« Aber hier war »draußen« etwas, das man anfassen konnte. Ein Substantiv.
    Die Wälder begannen am Ufer des Flüsschens, und das Plätschern des Wassers übertünchte das Zwitschern der Vögel, bis ich tief in die Bäume getaucht war. Dort war der Boden fleckig von Schatten und Laub und manchmal von Sonnenschein, und meine Schuhe machten laute Geräusche, die mir das Gefühl gaben, nicht hierher zu gehören. Aber wenn ich still stand, konnte ich vollkommen leise sein und im Wald versinken. Ich lehnte mich gegen einen Baum oder setzte mich auf einen flachen Stein ohne Moos und Käfer. Ich konnte hören, wie Pekannüsse oder Walnüsse auf den Boden fielen. Niemand sonst war da. Niemand beobachtete mich, niemand lauschte. Ich mochte den Wald am liebsten, wenn ich dort alleine war.
    Diesmal waren allerdings Ella und Lois dabei, aber ich kannte sie so gut, dass es beinahe so war, als wäre ich alleine gewesen.
    Die Bäume waren fast alle grün und schienen mit einem Feuer überzogen zu sein, als wir zwischen ihnen hindurchgingen – hier und da ein Funken Gelb oder Orange, der um unsere Köpfe schwebte. Ella sammelte Kastanien und Lois alle Walnüsse, die wir fanden. Ich war für die Blaubeeren zuständig. Wir stibitzten und probierten immer wieder aus den Säckchen der anderen, und obwohl unsere Bäuche schon gebläht und kurz vor dem Platzen waren, hatten wir noch immer genug, damit es zu Hause geröstete Walnüsse und Blaubeerkuchen und Flickschuster geben konnte.
    Hinter der Autostraße achtundsiebzig oben auf dem Berg war immer reichhaltig gedeckt.
    »Nachdem Henry Harken jetzt ein Auge auf dich geworfen hat, erlaubst du ihm, dich zu Hause zu besuchen?«, fragte Ella. Sie knackte eine Nuss und warf achtlos die Schale weg, die offen stand wie ein aufgerissener Mund.
    Ich runzelte die Stirn. Henry Harken war der Sohn eines wichtigen Bergwerksinspektors der Stadt. Gut situiert. Er

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