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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie den leeren Platz spürte, lachte sie harsch und zufrieden. Ich sah sie deutlicher vor mir als eine Meerjungfrau.
    »Aber du übernimmst das Reden«, sagte ich. »Und gehst zuerst rein, wenn wir wo nachschauen.«
    »Ja«, sagte Virgie, obwohl eigentlich ich diejenige war, die redseliger war.
    »Und wenn ich wo nicht hinwill, dann zwingst du mich auch nicht dazu.«
    »Natürlich nicht.«
    »Gut. Dann helf ich dir«, erklärte ich und wünschte mir gleichzeitig, dass ich die Brunnenfrau genauso leicht aus meinem Kopf bekommen könnte, wie sie ihr Kind in den Brunnen geworfen hatte.
    In diesem Moment kam Jack zu uns. Seine Locken fielen ihm in die Stirn.
    »Spielt ihr Drei gewinnt?«, wollte er wissen. Er liebte es zu zeichnen und hätte am liebsten immer einen Stift in der Hand gehabt. Mama meinte, er habe schon immer alles markiert. (Als er noch kaum krabbeln konnte, gelang es ihm einmal, einen Bleistift in die Finger zu bekommen und damit die Wand im Wohnzimmer vollzukritzeln. Ich war damals noch zu klein, um mich daran erinnern zu können, und Mama erzählte uns nie, was danach passierte. Ich hätte gern erfahren, wie seine Bestrafung ausgesehen hatte. Das war bestimmt kein Zuckerlecken!)
    »Nein, Jack«, sagte ich.
    »Kann ich dann allein spielen?«
    Ich wollte ihm gerade erklären, er solle lieber Glühwürmchen fangen, als ihn Virgie zu sich hochzog und ihn neben sich setzte. Sie zeichnete ein Rechteck mit Linien auf ein Blatt Papier und riss ein weiteres Blatt ab, ehe sie mir einen Stift reichte. Den anderen Stift gab sie Jack. »Du zuerst«, sagte sie zu ihm. »Du bist X.«
    Zu mir meinte sie: »Dann fangen wir an. Ich hab mir überlegt, wer in letzter Zeit ein Baby hatte. Das waren Lola Lowe, Pride Stanton …« Sie fuhr fort, eine ganze Reihe von Namen aufzuzählen. Ich schrieb sie alle auf, während Jack und sie abwechselnd ihr X und O kritzelten. Sie ließ ihn zweimal gewinnen und gewann danach selbst zweimal. Als wir fertig waren, war die Sonne untergegangen. Die letzten Namen musste ich seitlich an den Rand des Zettels schreiben. Wir hatten vierzehn Frauen aufgelistet, von denen wir wussten, dass sie seit dem vergangenen März ein Kind zur Welt gebracht hatten.
    »Glaubst du nicht, dass wir’s sofort wissen würden?«, fragte ich.
    »Was wissen?«, sagte Virgie und reckte den Kopf, um sehen zu können, wen ich aufgeschrieben hatte.
    »Wenn wir die Frau treffen, die’s getan hat. Sie würde doch bestimmt nicht einfach so normal sein.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil sie verrückt ist. Oder böse.«
    »Aber so wirkt sie vermutlich: völlig normal.« Virgie ließ ihre Hand mit dem Stift vom Mäuerchen herunterhängen. »Wir könnten ihr sogar täglich begegnen, ohne etwas zu merken.«
    »Aber wenn jemand verrückt ist, merkt man das doch«, sagte ich.
    »Wenn es so klar ist, warum fällt sie dann nicht auf? Verrückt oder böse muss anders aussehen, als wir bisher angenommen haben.«
    »Wer ist verrückt?«, fragte Jack.
    »Ach, wir reden nur«, erwiderte Virgie. »Nicht so wichtig.«
    »Wer ist verrückt?«, wiederholte er.
    »Die Frau, die das Baby in den Brunnen geworfen hat«, antwortete ich etwas zu scharf.
    »Oh«, sagte er. »Ich hab doch nur gefragt.«
    »Dann sei nicht so neugierig.« Er wollte immer wissen, worum es ging.
    »Du bist viel verrückter als alle anderen«, murmelte er verärgert.
    »Was?« Der Junge hatte anscheinend nicht mehr alle Tassen im Schrank.
    »Du glaubst immer noch an Meerjungfrauen und Feen und so was.«
    »Na und?«
    »So was gibt’s nicht. Ich weiß zwar nicht, ob es im Meer Meerjungfrauen gibt, aber du sagst, die Feen wohnen im Wald. Und da sind keine.«
    »Natürlich sind die da.«
    »Und wieso sehen wir sie dann nie?«
    »Lasst das«, mischte sich Virgie ein. »Ihr benehmt euch wie zwei junge Hunde, die immer nur bellen und schnappen. Kümmer dich nicht um sie, Jack. Sie hat nur schlechte Laune.«
    Mit einem finsteren Blick zu mir wandte er sich wieder Virgie zu und wartete, dass sie noch ein Rechteck für ihn zeichnen würde. Sie tat ihm den Gefallen und lächelte ihm dabei zu, während sie in meine Richtung die Augen verdrehte. Es war nicht fair, dass der Kleinste und Niedlichste immer Recht bekam.
    »Behauptest du immer noch, dass du verrückt und normal unterscheiden kannst?«, fragte sie so leise, dass sie kaum ihre Lippen bewegte. »Darum geht’s hier, Tess.« Eine Sekunde lang nagte sie an ihrer Lippe. »Wir wissen nicht, wer verrückt ist. Wir wissen

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