Wenn Die Nacht Anbricht
befestigte. Einige der Burschen antworteten mir. Den meisten ging es gut. Später stellte sich heraus, dass wir bei diesem Einsturz drei Kumpel verloren hatten. Von einem der drei sah ich die Hand. Sie steckte nicht mehr in ihrem Handschuh, sondern ragte frei aus dem Schutt heraus – der einzige Teil von ihm, der nicht verschüttet worden war. Wir anderen taten alles, was wir konnten, und begannen, uns einen Weg nach oben zu bahnen. Dazu mussten wir einige Holzpfähle beiseiteräumen, die den Tunnel versperrten. Ich stach mir in eines der leeren Fingernagelbetten. Vor Schmerz stieß ich beinahe einen Schrei aus. Letztlich taten mir die gebrochenen Rippen nicht so stark weh wie diese verdammten Fingerkuppen.
Ich wusste, dass mein ganzer Körper in Mitleidenschaft gezogen war, wobei die eine Seite besonders heftig schmerzte. Aber ich machte weiter. Schließlich hatte ich keine andere Wahl. Sobald wir an der Oberfläche waren, untersuchte mich ein Arzt. Seiner Meinung nach hatte ich einige Rippen gebrochen, und mein Fußknöchel war zur Größe eines Schinkens angeschwollen. Damit fingen auch meine Rückenprobleme an – das glaube ich jedenfalls. (Erst später brach ich ihn mir fast entzwei, und danach beruhigte er sich überhaupt nie mehr.)
Doch erst als ich ans Tageslicht kam, begann ich die Schmerzen so richtig wahrzunehmen. Keiner von uns war auf die Idee gekommen, sich hinzusetzen und zu warten, bis wir gerettet werden würden. Alle von uns kletterten, gruben und fluchten – ich fluchte gewöhnlich nicht, aber manchmal entwischte auch mir ein »Amen«, wenn einer der Kumpel einen besonders deftigen Fluch ausgestoßen hatte. Wir bluteten und schwitzten und beteten. Trotzdem waren es letztlich die an der Oberfläche, die uns zuerst erreichten. Wir hörten die Schreie und das Klopf-klopf der Steine über uns. Insgesamt dauerte es einen halben Tag, bis sie uns ausgegraben hatten. Leta war mit den anderen Frauen gekommen. Sie hatten Essen und Wasser und Tee für diejenigen Kumpel gebracht, die versuchten uns zu retten. Ich trank eine Kanne Tee und übergab mich danach beinahe vor Erschöpfung.
Der Regen wurde auf die Veranda geweht. Es waren stechende Tropfen, die mehr an Eissplitter als an Wasser erinnerten. Der Regen rann über meine Stiefel. Tropfen prasselten in den Eimer zu meinen Füßen (Eimer kosteten viel weniger als ein neues Dach). Am Himmel blitzte es, während es fast gleichzeitig donnerte. Ich sah, wie das Licht im Wohnzimmer flackerte. Leta musste die Kinder dort hineingescheucht haben. Ich stand aufrecht da, spürte den Regen mit jeder starken Windböe heftig in mein Gesicht schlagen und versuchte, mir dabei vorzustellen, wie ich dort unten in dem Dreck, der Kohle und zwischen all dem Schutt liegen und nie mehr aufstehen würde. Und mir wurde bewusst, dass ich Jesse Bridgeman im Grund nie gekannt hatte. Ich hatte nur seinen Namen und sein Gesicht gekannt. Sonst nichts.
Tess
Meine Knie ragten über den alten Waschzuber hinaus, und meine Unterarme hingen an den Seiten herab. Hosen, Hemden und Unterhosen passten da viel besser hinein als ich. Mama hatte ein Leintuch in der Küche aufgehängt. Es reichte von einem Schrank zum anderen, so dass ich für mich sein konnte. Aber Jack und Papa wussten sowieso, dass sie nicht nach hinten kommen durften. Der Zuber war unangenehm eng und eine Verschwendung guten Wassers. (Wenigstens war es warm, da Mama zwei Töpfe heiß gemacht und mit dem kalten Brunnenwasser gemischt hatte.) Die Männer und Jungen badeten im Fluss, aber ich, Virgie und Mama mussten mit dem Waschzuber vorliebnehmen.
Ich versuchte, mich so schnell wie möglich zu waschen, und drückte die Schultern unter Wasser, wodurch die Beine heraushingen. Ich seifte sie ein, so dass meine Gänsehaut wieder etwas nachließ. Mit den Stellen zwischen den Zehen ließ ich mir Zeit. Dann kam Seife unter meine Zehennägel, und ich musste die Füße ins Wasser tunken, damit ich sie wieder loswurde.
Ich konnte Grand Ole Opry im Radio hören, auch wenn es nur ein leises Summen war. Das Planschen und Spritzen übertönte die anderen Geräusche; außerdem stand das Radio draußen vor dem Haus.
»Mach es lauter, Virgie!«, rief ich.
Einige Sekunden später lugte Mama hinter dem Betttuch zu mir herein. »Schrei nicht so, Tess«, meinte sie stirnrunzelnd. »Und lass noch etwas Wasser im Zuber.«
Ihr Kopf verschwand wieder. Die Musik wurde lauter. Ich hörte ein Banjo und wie ein Bogen über die Saiten
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