Wenn Die Nacht Anbricht
während die Wochen zu Monaten wurden, blieb den Hungrigen häufig nichts anderes übrig, als weiter zu hungern.
Davon bekamen wir nichts mit. Jedenfalls eine ganze Weile nicht. Papas Brüder bewirtschafteten alle zumindest ein kleines Stück Land, während Mamas Schwestern Männer mit sauberen weißen Hemden geheiratet hatten, die immer einen Füllfederhalter in ihren Brusttaschen hatten.
Lola Lowes Sohn Mark war in meinem Alter, und er hatte es in der Schule nicht leicht. Viele der richtig armen Jungen hatten den Vorteil, dass sie grob, hart im Nehmen und so gemein wie Schlangen waren. Keiner wagte es, sich mit ihnen anzulegen. Aber Mark war schon immer klein und schmal gewesen und schien nie ganz gesund zu sein. Er wirkte einfach nur arm und erbärmlich und so, als würde er sich nicht wohl in seiner Haut fühlen – das typische Kind, zu dem man nett sein sollte, wenn es nach den eigenen Eltern ging. Ehrlich gesagt war auch keiner allzu hässlich zu ihm – es hätte keine Herausforderung bedeutet –, aber es setzte sich auch niemand freiwillig neben ihn oder fragte ihn, ob er Lust habe, Ball zu spielen.
In der dritten Klasse verfärbte er sich orange, als wäre er mit Wachskreide angemalt worden. Außerdem hatte er einen Blähbauch. Bei diesem dünnen Körper, der aus nichts anderem als Knochen zu bestehen schien, fiel dieser geschwollene, herausstehende Bauch natürlich besonders auf. Er kam nicht mehr in die Schule, was wohl eher mit seiner Scham als mit einer Krankheit zu tun hatte.
Es stellte sich heraus, dass sie im Garten ausschließlich Karotten angebaut hatten und er seit Monaten nichts anderes bekam. Dann erhielten sie zu allem Überfluss auch noch Arztrechnungen, da man Mark untersuchen ließ, um herauszufinden, warum er orange geworden war. Einige der anderen Kinder von Lola Lowe bekamen Rachitis und wurden fleckig. Als ich meinen Schulabschluss machte, hatte sie ihre vier jüngsten verloren. Es gab zwar unterschiedliche Bezeichnungen für das, woran sie gestorben waren, aber letztlich lag es an der Unterernährung. Mrs. Lowe kam wesentlich besser mit dem Verlust ihrer Ehemänner als mit dem ihrer Kinder zurecht. Aus meiner Kindheit kann ich mich kaum an sie erinnern, aber als ich dann auf dem College war, sollte ich ihr in Mamas Auftrag immer wieder ein Thanksgiving-Essen hinüberbringen.
Für mich war Lola Lowe stets die gebeugt gehende, dürre Frau, die nie etwas anderes sagte als: »Schöne Haare hast du da auf dem Kopf, Jack. Danke – und dank auch deiner Mutter von mir.«
Für mich bestand sie aus diesen zwei Sätzen.
Albert
Die Vögel wissen immer zuerst, wenn sich ein Sturm zusammenbraut. Ich hörte, wie sie laut tschilpten. Ich hatte es bereits in der Küche bemerkt, und als ich auf die Veranda hinaustrat, spürte ich das Gewitter in der Luft. Der Wind schlug gegen die Veranda, und es roch nach Elektrizität. Eichelhäher, Krähen und Schwalben riefen einander ihre Warnungen zu, während ich draußen stehen blieb und darauf wartete, dass der Regen herunterzuprasseln begann. Es gab nichts, was sich mit den Minuten vor einem Gewitter vergleichen ließ, wenn sich einem durch die Ladung in der Luft die Härchen aufstellen und die Bäume nervös zu zittern beginnen. Ich verschränkte die Arme und wartete, bis sich der Himmel aus vollen Kübeln in den Hof ergießen würde. Der erste Blitz leuchtete auf. Jetzt wurden die Vögel still und versteckten sich.
Beim Schichtwechsel um sechs Uhr abends erzählten uns die Kumpel, die uns ablösten, dass die beiden Banken in der Stadt den ganzen Tag über nicht geöffnet hatten. Es sprach sich schnell herum, dass sie ohne jegliche Vorwarnung zugemacht hatten. Die Türen waren verschlossen, die Rollläden heruntergelassen, und alle Bankangestellten hatten sich drinnen verbarrikadiert. Angeblich wollten sie überhaupt nicht mehr die Türen öffnen. Keiner von uns in den Gruben hatte Geld auf der Bank, aber in der Stadt gab es viele Leute, die gegen die Türen schlugen und versuchten, an ihr Geld zu gelangen. Einige liefen zu Jesse Bridgemans Haus hinüber und trommelten dort eine Weile gegen die Tür. Sie hielten ihn für verantwortlich, weil er die Bank leitete. Sie schlugen und trommelten den Großteil des Nachmittags, was allerdings nichts brachte, da er bereits am frühen Morgen nach Hause gegangen und sich erschossen hatte. Seine Frau war einige Jahre zuvor gestorben, und die Kinder waren in der Schule, so dass es niemand bemerkte, bis
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