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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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schließlich einer der Männer ums Haus ging und durch eines der hinteren Fenster blickte. Jesse lag zusammengesackt auf dem Boden. Er hatte sich nicht einmal auf einen Stuhl gesetzt, ehe er abdrückte.
    Im Jahr 29 wurden alle Banken schwer erschüttert und kamen stark ins Wanken, und die ganze Main Street entlang schlossen die Geschäfte und gingen bankrott. Mindestens ein Viertel der Schaufenster wurden damals vernagelt. Für mich änderte das nicht viel. Die Gruben blieben offen – mit einigen Kumpeln weniger –, und das Leben ging weiter wie bisher. Nicht besser und nicht schlechter.
    Ich hatte Jesse gekannt. Wir nickten uns zwar nur auf der Straße zu, wenn wir uns begegneten, aber ich hielt ihn für einen anständigen Mann. Ich verstand nicht, wie er so etwas hatte tun können. Er hatte zwei Jungen und ein Mädchen, wobei der Jüngste etwa in Virgies Alter war. Ich hatte keine Ahnung, wie man mit so etwas zurechtkam. Vielleicht war es anders, wenn man Geld hatte. Vielleicht hatte die Frau reiche Eltern, die sich um die Kinder kümmern konnten.
    Ich war schon in einige Unfälle verwickelt gewesen. Aber der einzige Unfall, bei dem ich befürchtet hatte, vielleicht doch nicht mehr lebend herauszukommen, ereignete sich in Nummer fünf, unten in Chickasaw.
    Ich lud damals auf, zuerst schlug ich die Kohle ab, und dann füllte ich eine Lore nach der anderen. Wie bei den meisten Tätigkeiten gewöhnt sich der Körper nach einer Weile an die Bewegung. Ich sammelte die Kohlestücke auf, unter denen sich auch immer wieder Schiefer befand, der oben aussortiert werden musste. Für Schiefer bekam man nichts. Während ich alles in die Lore wuchtete, war nichts zu hören. Nur hin und wieder drang das Husten eines Kollegen an mein Ohr. Oder der kratzende Laut einer Schaufel, die auf festen Schiefer traf. Es gab keine Uhr dort unten, also auch keine Minuten oder Stunden, nur die nächste Schaufel voll Kohle und die übernächste und die überübernächste. Man gewöhnte sich an das System der Bosse: Wie lange war egal, es ging nur um das Wieviel. Eine Tonne pro Lore. Wir füllten sie gleichmäßig und glatt, Jonah und ich, und wussten, dass es besser war, nicht auf die Schmerzen zu achten. Über kurz oder lang würden sie aufgeben und sich von selbst beruhigen.
    Der Stützbalken war bei einer der Sprengungen nicht richtig angebracht gewesen, so dass eine Seite des Tunnels einstürzte. Der Boden und die Decke schienen sich in der Mitte zu treffen, und ich blinzelte den Schmutz und den Staub aus meinen Augen, spuckte Dreck aus und schnäuzte mir die Nase. Als ich mir an den Kopf fassen wollte, um mir die Brocken und Brösel aus den Haaren zu streichen, vermochte ich meine Hände nicht zu bewegen. Ich steckte bis zur Brust fest und brauchte keine halbe Sekunde, um zu verstehen, dass ich mich erst einmal darum kümmern musste. Zuerst versuchte ich, meine Finger zu bewegen, bis sie lose genug waren, um meine Hände drehen zu können. Dann grub ich ein größeres Loch, indem ich meine Handgelenke drehte. Auf diese Weise konnte ich meine Arme unterhalb der Ellbogen ein wenig befreien, bis ich nach und nach spürte, wie die Erde unter meinen Schultern wegzubrechen begann. Ich fuhr fort, mich zu winden und zu drehen und arbeitete mich langsam voran – so wie ein steter Tropfen den Stein höhlt. Sobald ich meine Arme herausziehen konnte, wurde es leichter. Jetzt scharrte ich mit beiden Händen wie ein Hund, der einen Knochen ausbuddelt, und schob so immer mehr Erde und Schmutz vor mir her. Ich grub ein Loch um mich herum, bis ich unterhalb meines Hüftknochens angelangte. Dann hievte ich mich heraus.
    Ich musste mehrmals tief durchatmen, ehe ich in der Lage war, nach Hilfe zu rufen. Während ich gebuddelt hatte, hatte ich immer wieder lautes Ächzen und Rufen gehört. Ich hatte mir einige Fingernägel abgerissen und musste jetzt ein Stück meines Hemds abtrennen, um die Finger zu verbinden. Sie bluteten weiter, und mehrmals, als ich versuchte, den Staub aus meinen Augen zu wischen, bekam ich stattdessen Blut hinein. In einem eingestürzten Tunnel zu graben ist etwas ganz anderes als auf einem Feld. Die Erde war voller Splitter und Holz, Kohle und Gestein sowie einigen Metallstücken. Erst als ich meine Finger einwickelte, bemerkte ich, dass meine Hände auch an anderen Stellen bluteten. Ich verband also die ganzen Hände, wodurch es aussah, als würde ich Fäustlinge tragen.
    Ich rief nach den anderen, während ich den Verband

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