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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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glitt aus seinem Schaukelstuhl auf den Boden und rutschte mit knackenden Knien zu uns. Dabei schnitt er ein schmerzverzerrtes Gesicht.
    »Ihr werdet ihn wohl alle zusammen wieder hochhieven müssen«, meinte Mama, ohne von der Socke aufzublicken, die sie gerade stopfte.
    »Ich hiev dich hoch«, erklärte Jack. Es schien ihn zu freuen, einmal mit Papa auf Augenhöhe zu sein. Papa hob ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter, woraufhin Jack lachte und kreischte und mit den Füßen trat.
    »Und wenn ich dich zuerst hochhiev?«
    Ich erinnerte mich daran, wie Papa einmal meine Handgelenke in einer und Virgies in der anderen Hand gehalten, uns beide vom Boden hochgehoben und über seinen Kopf gezogen hatte. Das machte er so lange, bis uns beiden schwindelig wurde – hoch, runter, Boden, Himmel, Papas Knie, Papas Grinsen. Er erklärte, dass er in Übung bleiben müsse, damit er eines Tages nicht einfach müde werden und seine Schaufel fallen lassen würde.
    Er stellte Jack wieder auf die Füße, und Jack war von der Hitze und dem Kopfüberhängen rot wie eine Zuckerrübe. »Hört zu«, sagte Papa. »Ich mach euch einen Vorschlag. Wenn ihr morgen alle Baumwolle pflücken wollt, dann könnt ihr das Geld, das ihr dabei verdient, behalten. Ich werd den Talberts helfen, aber wir werden nicht alles schaffen. Letztes Jahr blieb ein Viertel oder so hängen und verfaulte.«
    »Du lässt uns nie Baumwolle pflücken«, meinte Virgie. Keine Ahnung, warum sie das sagte, denn das wussten wir alle sowieso.
    »Wird euch nichts schaden, es mal zu probieren«, erwiderte er und sah Mama an.
    »Da könnt ihr rausfinden, wie ein Tag für die Jungen und Mädchen ist, die immer pflücken müssen«, fügte sie hinzu.
    Sie und Papa sahen einander erneut an, und ich hoffte, dass ich nicht vergessen würde, Virgie später zu fragen, was dieser Blick wohl bedeutet hatte.
    »So viel wir pflücken können?«, fragte Jack.
    »Ja«, erwiderte Papa.
    »Ich weiß aber nicht, wie das geht«, meinte ich.
    »Ich zeig’s dir«, sagte er. »Aber wir müssen morgen schon um sechs los.«
    Wir waren fast nie mit Papa allein. Manchmal arbeiteten er und Jack zusammen draußen im Garten, und etwa einmal im Jahr brachte er mich und Virgie im Automobil in die Stadt, ohne dass jemand anderer darin gesessen hätte. Aber ein ganzer Tag mit Papa? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es so etwas schon jemals gegeben hatte.
    »Dann frühstücken wir also alle zusammen?«, wollte Virgie wissen, wobei sie mehr mit sich selbst als mit uns zu sprechen schien.
    »Das hängt von eurer Mama ab.« Papa stützte sich mit beiden Händen am Schaukelstuhl ab und zog sich wieder hoch.
    »Ich seh keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten«, erklärte Mama. »Wenn euer Papa dann nicht immer noch auf dem Boden liegt.« Sie lächelte, so dass sich ihr Mund ein wenig nach oben bog. Mamas Zähne sah man eigentlich nie.
    Papa antwortete nicht, sondern stieß sich nur ab und stand dann aufrecht da. Er ging gemächlich zu Mama hinüber und nahm ihr die Nadel und die Socken aus der Hand. Es gelang ihr, ein »Was …?« herauszubringen, ehe er sie auf die Füße zog, sich vorbeugte und sie sich über die Schulter warf.
    »Albert Moore!«, rief sie. »Du bist wohl auf eine Tracht Prügel aus! Lass mich runter!«
    Sie trat nicht um sich und schlug auch nicht mit den Fäusten auf Papas Rücken ein, wie Jack es getan hatte. Aber dafür wand sie sich ein bisschen. Ihr Zopf löste sich aus dem Knoten und hing beinahe bis zum Boden herab. Ihre Füße sahen aus diesem Blinkwinkel seltsam aus – winzig klein, mit schmutzigen Fersen und Zehen und blassen gewölbten Sohlen.
    Ich, Jack und Virgie sprangen auf und kreischten begeistert. Wir hatten Mama noch nie zuvor in der Luft gesehen. »Albert!«, rief sie. Daraufhin drehte er sich zu uns um und zwinkerte, beugte sich wieder nach vorn, zog sie auf seinen Schoß und ließ sich dann so auf ihrem Stuhl nieder. Sie fing erneut an, sich zu winden und an seinen Armen zu zerren, die um ihre Taille lagen. »Die Kinder, Albert!«, murmelte sie mit geröteten Wangen.
    »Du darfst auf seinem Schoß sitzen, Mama!«, rief Jack. »Das macht uns nichts aus!«
    Mama prustete und wehrte sich nicht länger. Stattdessen lächelte sie Papa schief an, und schon bald ließ er ihre Taille los und legte seine Hände stattdessen auf ihre Hüften. Sie sprang sofort auf und eilte schon durchs Zimmer, als Papa laut loslachte. Sein Lachen klang trocken und tief, als

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