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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Weltwirtschaftskrise machte er die Adressen derjenigen Grubenarbeiter ausfindig, die weggezogen waren. Er schrieb an mehr als fünfzig von ihnen einen Brief, in dem es hieß: »Lieber Tom, du schuldest mir noch 375 Dollar für deine Lebensmitteleinkäufe. Wenn du mir 150 Dollar zurückzahlst, bin ich bereit, den Rest zu streichen.«
    Ein kurzer schlichter Brief mit jeweils einer anderen Summe und einem anderen Namen.
    Ich sah die Liste von Namen und Adressen, die in Onkel Bills Schrift auf einem linierten Blatt aus Tante Merilyns Briefpapierset geschrieben war. Er tippte die Briefe mit der Schreibmaschine und behielt die Namensliste, um zu kontrollieren, von wem er eine Antwort erhielt. Manche schrieben nie zurück. Andere schickten ihm fünf Dollar und erklärten, dass sie ihm für sein Verständnis dankbar seien und ihm das Geld in Raten zurückzahlen würden. Ein Mann schrieb: »Du hast meine Familie ernährt, als sie nichts zu essen hatte und sonst verhungert wäre. Ich zahle dir jeden Cent zurück, den ich dir schulde.« Er brauchte insgesamt fünf Jahre, aber er schaffte es.
    Dieser Mann war der Einzige, der auf Bills Liste einen blauen Kringel um seinen Namen bekam. Ich sah den Kringel jedes Mal, wenn ich an dem Blatt Papier vorbeikam, das an Onkel Bills Rollladenschreibtisch befestigt war, gleich neben seinem Kalender mit den Schiffen der Marine. Ich kann mich noch heute an den Namen des Mannes erinnern und sehe ihn noch mit dem blauen Kringel vor mir, der oben durch die beiden Ts ging: Norman Bett.
    Onkel Bill rief diesen Namen immer, wenn er eine weitere Rückzahlung erhielt: »Hier ist wieder was vom guten, alten Norman!«
    Ich weiß nicht, ob noch einer lebt, der Norman persönlich gekannt hatte und der ihn auf irgendeiner verblassten Aufnahme voller Eselsohren identifizieren könnte, die zu lange in einem Schuhkarton oder in der hintersten Ecke einer Schublade lag. Doch in meinem Kopf brannte sich sein Name ein und wurde zu mehr als nur ein paar aneinandergereihte Buchstaben.
    Sein Name ist nicht im Geringsten verblasst.
    Mamas Schwester Emmaline starb im Alter von achtzehn Jahren, weshalb Tante Merilyn ihre jüngste Tochter nach ihr benannte. Die Enkelin dieser Tochter nannte wiederum ihre jüngste Tochter Emmaline. Als sich Familie und Freunde 2004 in einer winzigen Entbindungsstation in Boston in Massachusetts trafen und die gute Nachricht per SMS weiterleiteten, während sie darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, um sanft an den winzigen Fingern des schwarzhaarigen Babys zu zupfen, kamen sie auch mit Teilen eines Mädchens in Berührung, das im Jahr 1906 still und leise auf einer handgenähten Steppdecke gestorben war.
     
    Tess
    Wenn die Schule wegen der Baumwollernte geschlossen war, halfen wir meist im Haus mit, spazierten manchmal den Berg hinauf oder ließen uns mit dem Holen der Post Zeit – wenn wir Glück hatten. Mama hatte immer mehr als genug für Virgie und mich zu tun – wir mussten auch die Böden schrubben –, während Jack draußen war, Frösche oder Fische fangen oder etwas anderes machen durfte, was keine Arbeit war. Zum Pflücken der Baumwolle wurden wir nie abgeordnet. Das sei harte Arbeit, erklärte Papa, und nichts für Kinder. Die Leute, die auf der Farm lebten, kümmerten sich darum.
    Doch eines Abends im Herbst, als wir vor dem Feuer saßen, winkte Papa uns drei mit dem Finger zu sich, nachdem er unsere Aufmerksamkeit durch einen hohen, kurzen Pfiff auf sich gelenkt hatte. Wir saßen Knie an Knie nicht einmal eine Armlänge vom Kamin entfernt, sogen die Hitze in uns auf und hatten schwere Augenlider. (Ich fragte mich, ob man sich wohl so fühlte, wenn man betrunken war. Ich hatte gehört, dass Whiskey im Hals brannte. Und als ich eines Tages zu Marianne kam, stellte sich heraus, dass ihr Vater in einem Butterfass Selbstgebrannten auf der Veranda lagerte. Aus irgendeinem Grund wurde das Fass umgestoßen, und als Marianne und ich nach draußen kamen, hatte die Katze die Pfütze bereits entdeckt und lief im Zickzack über die Planken. Sie prallte beinahe gegen die Mauer. Mama und Papa gegenüber erwähnte ich nichts davon. Aber irgendwie hatte ich ein ähnliches Gefühl, als ich später vom Feuer ins Bett wankte. Mir kam die Idee, dass die Polizei manchmal vielleicht einen guten, gewärmten Menschen mit einem schlechten, betrunkenen verwechselte.)
    Wir zuckten alle zusammen, als Papa uns pfiff, und wollten uns gerade zu ihm umdrehen. Doch er hielt eine Hand hoch,

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