Wenn Die Nacht Anbricht
Bruder. Er fand mit nur neunzehn Jahren den Tod im Weltkrieg. Von fünf Kindern weilten nun also zwei nicht mehr unter uns. Seltsam, dass mich die Rosen nie an den Tod denken ließen, obwohl ich viele Zweige abschnitt, um sie auf den Friedhof zu bringen.
Stattdessen geriet ich immer ins Träumen und Nachdenken, wenn ich sie beschnitt. Ich glaubte, Emmaline neben mir stehen zu spüren, ruhig und still. Manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass sich Papa hinter mir befand und an meinen Haaren zupfte, um mich ein wenig aufzuschrecken. Oder ich malte mir aus, wie Janie hinter mir die Stufen herabhüpfte und mich bat, ihr beim Schneiden der Rosen zu helfen. Vorstellungen, die im Grunde sinnlos waren. Im Haus widmete ich mich ihnen nie, aber hier draußen ließ ich sie an mich heran.
Ich hoffte, eines Tages im Sommer sterben zu dürfen oder vielleicht auch im Herbst. Mein Papa sprach während seiner letzten Wochen nur immer wieder davon, wie gern er noch in eine knackige, saftige Birne beißen würde. Es war Januar, und das Einzige, was wir auftreiben konnten, war Birnenmarmelade auf Toastbrot. Wenn einem mehr oder weniger alle Zähne fehlen und der Magen nur noch wenig verträgt, kann ich gut nachempfinden, dass man an Obst denkt, an den Geschmack von Sonne und Wind, während man in Decken eingehüllt ist und einem alles schmerzt, weil man das Bett so lange nicht verlassen hat. Wenn man jedoch im Sommer stirbt, kann einem der Sommer ans Bett gebracht werden. Birnen und Nektarinen und Tomaten – alles, was auf einen Nachttisch passt. Man könnte sogar einen ganzen Berg voller Obst bekommen und sich tagelang selbst davon ernähren. Dann wäre man nicht einmal eine große Belastung für die anderen.
Albert
Wir konnten uns glücklich schätzen, einen Förderkorb zu haben. In den Schürfminen mussten die Männer auf Knien und teilweise sogar auf dem Bauch entlangrutschen, um zur Stollensohle zu gelangen, ohne in der Zeit auch nur einen Cent für die Anstrengung zu verdienen. Wir mussten wenigstens nur einmal hinunter, und das war es dann.
Der Förderkorb brachte mich den Schacht hinunter in die Teufe, und ich konnte mir den Leibhaftigen vorstellen, wie er ihn auch im nächsten Leben bediente und einen an der Kohle vorbei in das Feuer hinabließ, das weiter unten loderte. Doch noch blieben wir jeden Morgen in der Mitte stehen – irgendwo unterhalb der Erdoberfläche und ein wenig oberhalb der Hölle. Ich trat ins Dunkle hinaus und neigte sofort meinen Kopf nach vorne, um nicht anzustoßen. Dann ging ich zur hintersten Kammer, während die Lichter vor mir, um mich und hinter mir hin und her schwankten. Karbid war unter Tage das, was oberhalb die Glühwürmchen waren. Man konnte keinen der Kumpel in einer Entfernung von wenigen Yards erkennen – es sei denn, man schloss von der Höhe der Lampe, die an seiner Stirn befestigt war, auf seine Größe.
Das Licht meiner Kappenlampe breitete sich vor mir aus. Es wanderte über das Dach aus Kohle und Stein, das von Holzbalken und Säulen aus stehengelassenem Gestein und Kohle gestützt wurde, während man dort schürfte. Als Steiger dieses Abschnitts hatte ich am Abend zuvor selbst die Markierungen an die Wand gemacht. Dann war in unserer Abwesenheit die Schrämmaschine gekommen und hatte mit ihrem Kreis aus stumpfen Zähnen ins Flöz geschnitten. Sie schlug zu, riss die Kohle auf und ließ sie so wissen, wer hier das Sagen hatte. Danach kamen die Männer, die im Abstand von etwa sechs bis acht Fuß Löcher für das Dynamit in die ganze Länge der Wand bohrten. Anschließend folgten die Schießhauer, die den Sprengstoff in die Löcher stopften, und dann mussten alle aus der Grube raus. Es gab eine gewaltige Erschütterung, und Kohle, Gestein und Staub flogen durch die Luft. Hier und da gelang es der Kohle, sich zu rächen, indem sie ein Dach einriss oder während der Sprengung einige Kumpel in den Tod schickte. Doch in letzter Zeit war das nicht mehr geschehen. Die Bohrer und die Schießhauer hatten ihre Arbeit gut gemacht, und als meine Stiefel dort herumliefen, wo zuvor die ihren gewesen waren, hatten sich der Rauch und der Kohlenstaub der Sprengung längst wieder gelegt.
Ich hatte lange als Hauer gearbeitet und bereits mit zahlreichen Kumpeln Seite an Seite in den Kammern Kohle abgebaut. Jetzt hatte ich keine eigene Kammer mehr, und ich wurde auch nicht dafür bezahlt, wie viel ich förderte. Ich bekam einen Stundenlohn, was mir gut passte. Die meisten Kumpel
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