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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Rosen beschäftigen konnte. Wenn ich sie nicht pflegte, redete ich mit ihnen. Jede von ihnen bekam einen Namen von mir, den ich meinen Schwestern allerdings nicht verriet: Esmerelda für die auffallend strahlende rosa Rose, die sich nach Aufmerksamkeit nur so verzehrte; Beulah für die handfeste, starke rote; Virginia für die zarte weiße, die bei zu viel Sonne zu welken begann. Ich riss mir an ihren Dornen die Finger auf, so dass wir Blutsschwestern wurden. Häufig legte ich mir auch einige Blütenblätter aufs Kopfkissen, damit ich ihren Duft im Schlaf riechen konnte.
    Es war eine seltsame Zuneigung, die mein erwachsenes, verheiratetes Selbst im Nachhinein und aus der Ferne ein wenig verwunderte. Ich hatte drei Schwestern, die mich verhätschelten, aber meine Geheimnisse vertraute ich den Rosen an. Sie waren wunderschön, und sie verführten auf viele Arten – mit ihrem Duft, ihrem Aussehen, mit der Weichheit ihrer Blütenblätter. Außerdem stellten sie einen Teil des Hauses dar, den noch meine Mutter geprägt hatte. Zumindest kam mir das damals so vor. In gewisser Weise vermengten sich der Geruch und das Ertasten ihrer Blüten in meiner Vorstellung mit meiner Mutter. Janie, die zwei Jahre älter war als ich, saß oft bei mir. Auch sie konnte sich kaum an Mama erinnern, weshalb wir sie uns gemeinsam ausmalten. (Ich hatte eine klare Erinnerung daran, wie sie tot auf dem Bett lag, aber versuchte meist, nicht daran zu denken.) Wir forderten Merilyn und Emmaline oft dazu auf, uns von ihr zu erzählen. Aber da sie meist damit beschäftigt waren, Essen zu kochen und das Haus in Ordnung zu halten, waren wir größtenteils auf uns alleine gestellt. Wir sammelten herabgefallene Rosenblätter und versuchten, daraus einen Teppich zu legen, indem wir jedes Blütenblatt in den Boden schoben, nachdem wir es mit Wasser weich gemacht hatten.
    Ich hatte großes Glück, diese Jahre zu haben, die so wirklichkeitsfremd und ziellos sein durften. In meinem letzten Jahr in der Mittelschule bekam Janie Typhus. Sie war schon eine ganze Weile lang müde und erschöpft gewesen, doch als sie Papa die rosenfarbenen Flecken an ihren Seiten und auf ihrem Bauch zeigte, warf er beinahe seinen Stuhl um, so schnell sprang er auf, hob sie hoch und brüllte nach meinem Bruder, den Maulesel anzuspannen und den Doktor zu holen.
    Später erfuhr ich, dass die schlechte Kanalisation der Stadt Schuld daran gehabt hatte. Einige der Geschäfte und Hotels im Stadtzentrum entleerten ihre Abwässer direkt in die Regenwasserkanäle, was einen schrecklichen Gestank verbreitete. Wenn man an einem Gully vorbeikam, hätte man schwören können, auf einem Plumpsklo zu sein. Viele Kinder hatten mit Durchfall und Ruhr zu kämpfen, aber jener Sommer war der erste, an den sich Papa erinnern konnte, in dem auch Typhus hinzukam.
    Jedenfalls wurden wir alle gegen Typhus geimpft, wie es vermutlich sowieso hätten geschehen sollen. Ich konnte kaum schlafen, so weh tat mir mein Arm. In den folgenden zwei Tagen schüttelte mich das Fieber. Mir war unter meinen Decken eiskalt, und ich fürchtete, trotz allem Typhus bekommen zu haben. Doch man erklärte mir, dass das keine Anzeichen einer Krankheit wären, sondern nur der Impfstoff.
    Es stellte sich jedoch heraus, dass es Emmaline, meine älteste Schwester, bereits erwischt hatte, obwohl man es bei ihr nie so sah wie bei Janie. Sie zog uns jeden Morgen an, gab uns unsere Pausenbrote mit und legte uns kühle Umschläge auf den Kopf, wenn wir Fieber hatten. Sie war jede Minute des Tages beschäftigt, und erst jetzt – viele Jahre später – wurde mir klar, dass sie einen Verehrer hätte haben sollen, anstatt sich nur um uns zu kümmern. Aber sie war immer da, sie war am Morgen als Erste auf den Beinen und am Abend als Letzte im Bett. Sie gab uns Zitronensaft und Honig, wenn uns der Hals kratzte, und sie konnte vier oder fünf Räder hintereinander schlagen.
    Janie ging es langsam wieder besser, aber Emmaline starb. Ich wachte eines Morgens auf. Papa stand unter der Tür und sagte, dass sie in der Nacht gestorben sei.
    Ihr Rosenbusch war der weiße – Virginia. Für ihre Beerdigung schnitt ich zehn lange Zweige mit großen Blüten ab. Ich entfernte sogar die Dornen, weil ich sie in den Sarg legen wollte. Doch ich war derart mitgenommen, dass ich sie zerzupfte, während ich dem Pfarrer zuhörte. Ich konnte mich, als ich Virgie zur Welt brachte, kaum mehr an Emmaline erinnern. Ich wusste noch, dass sie hübsch war, aber die

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