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Wenn Die Nacht Beginnt

Wenn Die Nacht Beginnt

Titel: Wenn Die Nacht Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
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bewegen, vorwärts oder rückwärts. Am liebsten vorwärts.«
    »Ja, Mutter.« Ich lächelte.
    Dann kam der Augusttag, an dem Alexander ankündigte: »Morgen wird das Gemälde fertig sein.« Die Hitze hatte aus seinem Haar eine feuchte Mütze gemacht und es dicht an seinen Kopf gedrückt. Er sah aus wie Julius Cäsar. »Und«, fügte er feierlich hinzu. »Ich glaube, du solltest wissen, es gibt einen Interessenten für das Haus.«
    In einem einzigen Moment sank die Temperatur um dreißig Grad. Ich erstarrte.
    »Für mein Haus?«
    »Ich fürchte, ja, Georgie Ann. Nun, wie ich schon sagte, wenn du nur wieder arbeiten würdest, könnten wir für dich einen Kredit bekommen. Hast du darüber nachgedacht?«
    Nein, natürlich nicht. Ich hatte mir eingeredet, dass ein Wunder geschehen würde. Mein Porträt würde genug einbringen, um die Anzahlung für das Haus abzudecken. Dann würde Alexander mir einen Heiratsantrag machen, und wir würden glücklich bis ans Ende unserer Tage leben – in diesem Haus, natürlich.
    Alexander sagte: »Das Semester fängt bald an. Könntest du nicht die Universität bitten, dich wieder einzustellen? Wenigstens in Teilzeit, das wäre eine Demonstration guten Willens für die Hypothekenbank.«
    Zurück in den Seminarraum? Zu verschwitzten Heranwachsenden über die Verbindung wahrer Geister sprechen? Also, das konnte ich genauso wenig tun, wie ich zu Kröger marschieren konnte, um mir Pfirsiche oder Pflaumen in Dosen zu holen, während die ganze süße Fülle, die ich je brauchte, bei diesem Haus auf mich wartete.
    »Nein«, würgte ich hervor. »Das kann ich nicht.«
    »Du solltest darüber nachdenken, Georgie Ann.«
    Und dann, bevor ich Zeit hatte, zu begreifen, was Alexander mir gesagt hatte, war der August vorüber, und der Labor Day kam gleich danach, dieses Jahr früher als sonst. Gespitzte Bleistifte, wieder unterrichten. Die Saison war eröffnet worden. Mutter fing an, ihre jährliche Opern-Pilgerfahrt nach New York zu planen. Alexander bereitete sich auf seinen bevorstehenden Triumph in Atlanta vor. Wenn er anrief, inzwischen kaum noch einmal die Woche, dann in dem Versuch, mich davon zu überzeugen, zu seiner Ausstellung zu kommen. Die Callendar Galerie ziehe ernsthafte Sammler an, sagte er. Mein Porträt würde das zentrale Stück sein, und alle würden gerne das Modell kennen lernen.
    Das kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Nicht nur in die Welt hinausgehen, sondern auch noch ins Rampenlicht? All diese Augen … Die bloße Idee war absurd.
    Am Abend der Eröffnung fuhr ich hinüber zu dem Haus. Ich wollte auf den Stufen sitzen und mir Alexander in seiner Herrlichkeit vorstellen. Aber als ich in die Einfahrt fuhr, war das Erste, was ich sah, ein kleiner Streifen, der an dem ›Zu verkaufen‹-Schild angebracht war. Reserviert. Ich sah rot, und das Blut pulsierte hinter meinen Augen. Mein Kopf drohte zu zerspringen. Ich riss das Schild heraus und warf es in den Kofferraum meines Autos. Dort würde es ersticken. Es würde sterben. Es würde keine Reservierung geben.
    Ich würde mich auch nicht dazu herablassen, der Angelegenheit weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Ich konnte meine Gedanken und Handlungen beherrschen. Hatte ich das nicht schon längst bewiesen? Ich war so nahe daran gewesen, mich umzubringen, aber ich hatte es nicht getan. Ich hatte auch William nicht getötet. Ich hatte mich zurückgezogen und alles überwunden.
    Also saß ich ruhig auf der obersten Treppenstufe vor der Tür des Schlafzimmers, wo Alexander und ich so viele glückliche Stunden verbracht hatten. Ich dachte an gutrasierte Männer in dunklen Anzügen und Frauen in zierlichen Kleidern in Schwarz und Grau und Taupe, dreihundert Meilen entfernt in Atlanta, die meine Brüste anstarrten. Sie würden es natürlich ausgesucht höflich tun, mit dem leisen Gemurmel, in dem Leute aus gutem Hause sich unterhalten. Ich stellte mir vor, wie ihre Augen sich weiteten, während sie hinsahen, und wie ihre Münder kleine Kreise formten.
    Ich zog eine Pflaume aus meiner Tasche. Mutters Haushälterin hatte sie vom Einkaufen mitgebracht. Ich biss in das lila Fleisch, und der Saft erfüllte meinen Mund, nicht mit dem Nektar des Sommers, sondern mit einem sauren, dünnen Sirup.
    Ich saß oben auf der Treppe, bis das Tageslicht verschwunden war, und dann tastete ich mich hinaus; die Einzelheiten dieses Hauses waren mir so vertraut wie die Knochen eines Liebhabers. Als ich im Haus meiner Mutter im Bett lag, suchten

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