Wenn Die Nacht Beginnt
damals waren der Hitze und den Moskitos ihres Kansas-Sommers entflohen, indem sie hier unten ihren Geschäften nachgingen und ihre gemeinschaftlichen Gebete verrichteten, und sie waren hier auch Wirbelstürmen und bitterkalten Wintertagen entkommen. Zweiunddreißig Paare waren in der unterirdischen Kapelle getraut und unzählige Bärte in dem Friseurladen rasiert worden.
Amelia kannte alle diese Fakten, und noch mehr.
Sie wusste jedoch nicht, was in der Dunkelheit vor ihr lag.
Wenigstens gab es Licht. Sie glaubte, sie konnte fast alles ertragen, solange es einen Lichtschein gab. Völlige Dunkelheit fürchtete sie mehr als alles auf der Welt.
Zögernd ging Amelia vorwärts, bis sie ihre linke Hand auf den mit Filigran geschmückten, silbrigen Arm des nächsten Barbierstuhles legen konnte. Dahinter hing ein stark gesprungener und verzerrter Spiegel. Sie schaute hinein und sah sich selbst. Wie eine distanzierte Beobachterin betrachtete Amelia ihre eigenen aufgerissenen braunen Augen, ihre zerzausten kurzen braunen Locken, die Schweißflecken auf ihrem roten T-Shirt und die Schmutzspuren auf ihren Jeans, und sie dachte: Ich sehe verängstigt aus. Von der Offensichtlichkeit ihrer Angst entnervt, schaute Amelia weg und weiter hinein in die Dunkelheit am anderen Ende des Ladens. Während undeutliche Umrisse allmählich sichtbar wurden, bemerkte sie einen dritten Friseurstuhl und dass jemand darin saß.
»Ach, da sind Sie ja!«, rief sie aus.
Mehrere Dinge schienen gleichzeitig abzulaufen.
Inzwischen war Amelia nahe genug am letzten Stuhl, so dass sie sehen konnte, wer darin saß, und sie spürte plötzlich eine tiefe, tiefe Kälte. Der Mann im Stuhl war tot. Beim Anblick seines Gesichts mit den aufgerissenen Augen wurde sie von solch unerwartetem Kummer erfasst, dass er kurz ihren Schock übertraf.
Als sie ihren Blick zum Spiegel hinter dem dritten Stuhl hob, sah sie im Eingang hinter sich das Gesicht eines anderen Mannes auftauchen und – dankbar – erkannte sie auch diesen Mann.
»Schauen Sie!«, rief sie und wirbelte zu ihm herum. »Schauen Sie nur, was passiert …«
Aber anstatt zu ihr zu kommen, griff er nur mit einer Hand herein. Mit einem heftigen Ruck zog er an der Kette, die von der Fassung der Glühbirne herunterhing. Das Licht ging aus, und die Kette riss ab.
»Nein! Bitte nicht!«
Unter der Stadt Spale in völlige Dunkelheit getaucht, konnte Amelia nicht sehen, wie sich die Tür schloss, aber sie hörte sie dumpf zuschlagen, und sie hörte das schreckliche Geräusch des langen Holzriegels, der vorgeschoben wurde.
Und sie hörte ihr eigenes Schreien.
Mein Gott, wie dumm war sie nur gewesen.
Dienstag, 16. Dezember
»Geisterstädte in Kansas?«
Im Büro des Verlegers der American Times in New York City hatte Amelia Blaney mit ihrer linken Handfläche gegen ihren Kopf geschlagen, als ob sie ihre Ohren frei machen wollte. Die spontane Reaktion hatte – im Spaß – andeuten sollen, dass sie ihren Chef vermutlich missverstanden hatte. Ihr Gesichtsausdruck deutete an, dass sie ihn unmöglich richtig verstanden haben konnte.
Auf ihre Geste hin hob sich sarkastisch eine Seite des schmalen Mundes von Dale Hale, aber er sagte nicht: »Das war nur Spaß.« Stattdessen fragt er scharf nach: »Welches Wort macht Ihnen Mühe, Amelia: Geist, Stadt oder Kansas?«
Sie war nur jung, nicht dumm. Sie wusste, dass Dan selbst ursprünglich aus dem Staat kam. Vielleicht hasste er ihn, vielleicht liebte er ihn. Amelia bereute bereits ihre komische Einlage und formulierte vorsichtig ihre nächsten Worte.
»Zweifellos«, sagte sie taktvoll, »ist Kansas im September sehr schön. All dieser goldene … Weizen.«
»Kansas ist kein Weizenstaat.«
»Nicht? Dann eben Mais.«
»Maisfelder sind grün.«
Amelia umklammerte ihre Stuhlkante, um nicht die Hände hochzustrecken. Okay!, dachte sie in gereizter Kapitulation. Was auch immer. Sie zog es vor, das Thema Kansas fallen zu lassen, und kam zur Wahrheit.
»Ich habe Angst im Dunkeln«, gab sie zu.
Sie sagte es leichthin und erwartete eigentlich nicht, dass ihr Chef ihr glauben würde, oder gar Mitgefühl aufbringen und sich anders besinnen würde, aber es war peinlicherweise wahr. Seit frühester Kindheit hatte Amelia fast krankhafte Angst vor dem Dunkeln gehabt. So sehr ein klaustrophobischer Mensch Schränke hasst, so sehr jemand mit Agoraphobie vor offenen Plätzen schreckliche Angst hat, so sehr fürchtete sich Amelia vor der Dunkelheit. Bei den wenigen
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