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Wenn Die Nacht Beginnt

Wenn Die Nacht Beginnt

Titel: Wenn Die Nacht Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
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hereinzuhüpfen.
    Katey war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Trockenheit in ihrem Mund bemerkte und die Taubheit in ihrer linken Hand. Wie beim Schlaganfall, dachte sie – aber es war doch anders. Als sie versuchte, aufzustehen und zum Telefon zu gehen, hatten ihre Beine keine Kraft, und sie sackte in sich zusammen und fiel auf den Fußboden.
    Die Sonne ging gerade auf, als Tori Roberts nach Boston hineinfuhr. Ihre ältere Freundin, Lat Nhu, war bei ihr – eine zögerliche, aber interessierte Begleiterin. Lat war ein Widerspruch in sich selbst. Unwillig darüber, sich in einen Ort zu wagen, in dem sie nie zuvor gewesen war, saß sie mit hochgezogenen Schultern da und hatte die Hände im Schoss verkrampft. Dann lehnte sie sich vor, zerrte am Sicherheitsgurt, und ihre Stirn berührte fast die Windschutzscheibe, begierig nach dem ersten Anblick der Stadt. Lats Vögel, ein Paar Finken und ein Paar Kanarienvögel, saßen in ihren Bambuskäfigen auf dem Rücksitz. Als die Sonne durch die Fenster hereinschien, wurde aus ihrem verschlafenen Zirpen vorsichtiges Gezwitscher. Lat begrüßte den Morgen mit einigen vietnamesischen Äußerungen. »Es ist ein guter Tag«, pflichtete Tori ihr bei.
    Tori hatte einen kleinen Anhänger gemietet, um die Dinge zu transportieren, die sie nicht im Depot lassen wollte, und der polterte jetzt hinter ihnen drein. Sie würden nur den Sommer dort verbringen. Und danach? Tori wusste es nicht. Sie hatte ihre Arbeitsstelle an dem kleinen College verloren, wo sie asiatische und afroamerikanische Kultur unterrichtete und auch ihren Bakkalaureus und ihren Magister gemacht hatte. Hier hatte sie ein paar Freunde und hoffte, dass Lat sich wohl fühlen würde in der wachsenden vietnamesischen Gemeinschaft, da sie bei Thanhs Mutter wohnen würden. Thanh. Sie hatte ihn acht Jahre lang nicht gesehen. Sie waren einmal ein Paar gewesen. Tori lächelte bei der Erinnerung.
    Als sie ankamen, fanden sie Chaos vor. Die Ordnung in der kleinen Wohnung – aufgerollte Schlafmatten, ein Stapel Zafu, Truhen mit Habseligkeiten – wurde von herum krabbelnden und streitenden Kleinkindern und kichernden, streitenden Schulkindern durcheinander gebracht. Mütter, Großmütter und Tanten, insgesamt mindestens ein Dutzend, waren in der Küche versammelt und unterhielten sich auf Vietnamesisch, ohne auf den Lärm der Kinder zu achten. Thanh war nirgends zu sehen.
    Lat blieb auf dem Flur im oberen Stockwerk stehen, in jeder Hand einen Vogelkäfig. Tori, die sich hier zu Hause fühlte, ging zu den Frauen. Ihre Gesichter waren so breit wie ihr eigenes, mit hohen Wangenknochen, und ihr Haar genauso schwarz und glatt. Nur ihre Hautfarbe war anders, ein viel dunkleres Braun. Da ihre Mutter Afroamerikanerin und ihr Vater Vietnamese war, hatte sie gelernt, Französisch und Vietnamesisch zu sprechen, und verstand, was sie sagten. Ein kleines Mädchen fehlte. Wie weit würde sich das Kind von all dem entfernen, was ihm bekannt und vertraut war? Das südliche Boston war ein schlanker Finger, der in den Atlantik hinausragte und auf drei Seiten von Wasser umgeben war. Höchstwahrscheinlich war das Mädchen innerhalb des vietnamesischen Viertels irgendwo anders hingeraten und hatte sich gar nicht verirrt. Das Schreien eines Säuglings übertönte den Lärm und brachte Frauen und Kinder zum Schweigen. Eine Frau löste sich aus der Gruppe, hob das Kleinste auf und beruhigte es. Die anderen nahmen ebenfalls ihre Kinder in den Arm – eine kollektive Erinnerung an das Kind, das fehlte.
    »Tori!« Thanhs Mutter, Mrs. Diem, sah sie und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie war so klein, dass Tori auf ihren Scheitel sehen konnte, als sie sich umarmten.
    »Es ist Thanhs Tochter, die fehlt«, sagte sie. »Meine kleine Ngoc Thuy.«
    Hatte Thanh ihr den Namen gegeben? Ngoc Thuy, wertvolle Tugenden, dachte Tori.
    Wieder begannen die Frauen, gleichzeitig zu reden. Als Tori ihnen schließlich folgen konnte, begriff sie, dass das Kind schon seit dem Vortag vermisst wurde, dass jede Frau gedacht hatte, sie sei bei einer der anderen, dass sie jetzt keine Ahnung hatten, wo das Kind war, und dass Thanh und die anderen Männer losgezogen waren, um sie zu suchen. Die Polizei hatte man nicht verständigt. Nach dem Chor der Bestürzung zu schließen, den Toris Frage danach auslöste, wäre das nur ihre allerletzte Zuflucht.
    »Sie ist so still«, sagte eine der Frauen. »Sie hört immer auf etwas, was niemand sonst hören

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