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Wenn Die Nacht Beginnt

Wenn Die Nacht Beginnt

Titel: Wenn Die Nacht Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihre Lehrerin weggegangen war, um zu sterben – genau wie ihre Mutter. Sie wollte nicht, dass jemand so Liebenswertes wie Miss McDivott ganz allein sterben musste. Miss McDivott sollte nicht glauben, dass sie sie jemals vergessen würde. Sie wollte Miss McDivott die Karamellbonbons bringen, die sie für ihre Mutter aufgehoben hatte, und wollte ihr Lächeln sehen, wenn sie sie auspackte. Sie wollte sie wieder sprechen hören, ihre Stimme, die sanft war wie der Wind. Sie hatte allerdings nicht gewusst, dass man so lange brauchte, bis man in dieses Sudbury kam. Sie hatte geglaubt, sie wäre bis zum Morgen dort, bevor die anderen sie vermissten, und könnte sie anrufen, um sie wissen zu lassen, wo sie war.
    Der Bus kam. Ngoc Thuy fragte wieder, ob er nach Sudbury fahre. Wieder faltete sie das Papier auseinander, wieder fragte sie nach dem Fahrgeld und zählte es ab. Vielleicht ist es jetzt nicht mehr so weit. Wenn sie erst einmal dort wäre, brauchte sie nur zum Ozean zu gehen und am Strand entlangzulaufen, bis sie das Haus mit den rosafarbenen und gelben Rosen sieht. Vielleicht hatten die anderen sich geirrt. Auch wenn Miss McDivott nicht mehr zur Schule kommen würde, vielleicht würde sie trotzdem nicht sterben. Vielleicht würde sie durch die Blumen in ihrem Garten gehen und für immer – oder zumindest für eine sehr lange Zeit – von ihrer hinteren Veranda aus den Ozean betrachten.
    Zunächst konnte Katey ihren linken Arm und ihr linkes Bein bewegen, aber als sie versuchte, durch den Raum zum Telefon zu gehen, setzte ihre Kraft aus. Ihr Mund fühlte sich trocken an, ihre Zunge war geschwollen und ihr schnürte sich der Hals zu. In ihren Ohren war dieses Summen und Klingeln. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber sie glaubte, geschlafen zu haben. Sie hörte Geräusche, von denen sie glaubte, dass sie vom Postboten kamen – dem einzigen Menschen, der heute wahrscheinlich zu ihr kommen würde, aber sie konnte nicht einmal einen Laut von sich geben. Was geschah mit ihr? Dies hier fühlte sich überhaupt nicht nach Schlaganfall an.
    Das Fenster war offen. Der Tag schien heiß zu sein, denn die Vögel waren still. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, etwas anderes zu hören als die Geräusche in ihrem Kopf. Sie versuchte, sich vorzustellen, sie befände sich in irgendeinem friedlichen Gehölz und beobachtete einen äußerst zarten, farbenprächtigen Vogel, einen, den sie noch nie gesehen hatte. Es gab niemanden, der sie anrufen oder besuchen würde. Sie hatte keine Verwandten, und bis zu ihrer Pensionierung war das hier nur ein Sommerhäuschen, wo sie die meisten Wochenenden verbrachte. Vielleicht würde der Briefträger aufmerksam werden, wenn sich genügend Post ansammeln würde. Ansonsten würde sie hier liegen bleiben und sterben, es sei denn, dies hier würde irgendwie vorübergehen. Ihr Hals verengte sich noch mehr. Das Schlucken schmerzte. Bald würde ihr die Luft abgeschnürt werden. Sie spürte eine beginnende Panikattacke. Nein, auch wenn sie weder sprechen noch sich bewegen konnte, würde sie weder der Furcht noch der Verzweiflung nachgeben. Wenn sie sehr gut hinhörte, könnte sie vielleicht das Rauschen des Ozeans oder das Lied eines Vogels hören. Katey schloss die Augen.
    Ngoc Thuys Zimmer war kaum mehr als ein Schrank mit einer Schlafmatte. Offene Schuhschachteln beherbergten eine sorgfältig angeordnete Sammlung winziger Puppen mit langem Haar in Rotschattierungen, brünett und blond, und Pferdchen, alle aus Kunststoff, einige mit künstlichen Mähnen und Schweifen. Tori kniete sich neben eine Truhe aus Mahagoni. Auf dem Deckel war eine Waldszene abgebildet, mit Vögeln, Rehkitzen und Kaninchen, die in das Holz geschnitzt waren. In der Truhe lagen Ngoc Thuys Kleider, und auf dem Boden einige Schulhefte und Karamellbonbons.
    Tori nahm die Hefte heraus. »Sind alle ihre Kleider hier?«
    Thanh sah von der Tür aus zu. Bei der Frage blitzte Ärger in seinen dunklen Augen auf. »Sie ist nicht ausgerissen.«
    »Sie ist ein kleines Mädchen. Ihre Mutter starb vor eineinhalb Jahren, und jetzt ist auch noch ihre Lehrerin weg.« Dieses Argument hatte ihn davon überzeugt, sie die Sachen des Kindes durchsehen zu lassen, aber ihre Verdächtigungen gefielen ihm gar nicht.
    »Sie hat die Bonbons ihrer Mutter dagelassen«, gab er zu bedenken.
    Tori berührte ein gelbes Bonbonpapier aus Zellophan, hob es aber nicht auf. Das war etwas Besonderes, etwas, das sie nicht zurückgelassen hätte, wenn sie

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