Wenn Die Nacht Beginnt
kann, dabei ist sie irgendwohin gelaufen und hat nicht auf ihre Umgebung geachtet.«
»Wie alt ist sie?«, fragte Tori und hoffte, dass Thanh sie vor acht Jahren nicht angelogen hatte oder es einfach unterlassen hatte, ihr von einem Kind zu erzählen – und einer Ehefrau, denn er hielt sich an die alten Lebensregeln.
»Sie ist im Mai gerade sieben geworden.«
»Wo ist ihre Mutter?« Tori war überrascht über ihr eigenes Widerstreben, die Frau kennen zu lernen, die Thanh geheiratet haben musste. Es sollte ihr eigentlich nichts ausmachen – schließlich war nichts Ernstes zwischen ihnen gewesen.
»Die ist weg«, sagte die Mutter. »Thanhs Frau ist tot.« Die Gereiztheit in ihrer Stimme und die abwehrende Geste ihrer Hand brachten Tori dazu, sich zu fragen, ob das wirklich wahr war oder nur Wunschdenken seitens einer alles andere als erfreuten Schwiegermutter. Vielleicht war die Heirat – Tori nahm an, dass es eine gegeben hatte – nicht von den Eltern in die Wege geleitet worden.
»Wie lange wird das Kind schon vermisst?«, fragte Tori.
»Fast einen Tag.«
»Seit heute Morgen?«
»Gestern.«
»Vor dem Abendessen oder danach?« Wenn das Kind in der Nähe war, konnte es mit einem vollen Magen länger wegbleiben als mit einem leeren.
»Danach.«
»Hat sie schon einmal anderswo übernachtet?«
»Sie bleibt oft bei einer von uns oder bei anderen.« Eine junge Frau sprach, eine von drei Frauen, die kein Kind im Arm hatten.
»Ja. Ja.«
Die anderen beiden beeilten sich, zuzustimmen.
Vielleicht war die Mutter des Kindes wirklich tot. Und vielleicht, da Tori ihn als Romantiker kannte, gab es noch eine Frau oder mehrere, die ebenfalls um seine Zuneigung wetteiferten, die diesen dreien hier nicht bekannt waren.
»Wer sieht nach dem Laden?«, fragte Tori. Thanh war tagsüber Ladeninhaber, und an den meisten Abenden unterrichtete er Kampfsport. Schnell suchte man nach den Schlüsseln, und die drei ledigen Frauen stritten sich darum, wer sich um den Laden kümmern sollte, und als sie sich nicht einigen konnten, gab es eine laute Auseinandersetzung. Wie auch immer der Zustand von Thanhs Ehe sein mochte, Thanh wurde von einigen Frauen immer noch als begehrenswert betrachtet.
Lat trat in die Küche und stellte die Vogelkäfige auf den Fußboden. Tori winkte Lat näher heran und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, damit sie sich setzen konnte.
»Lat, dies ist Mrs. Diem«, sagte sie. »Mrs. Diem, Lat Nhu.«
Die beiden Frauen musterten einander schnell und lächelten.
»Was ist mit dem fehlenden Kind?«, fragte Lat.
Thanhs Mutter erklärte ihr, was Tori bereits von den anderen aufgeschnappt hatte. Das kleine Mädchen, Ngoc Thuy, befand sich oft in ihrer eigenen Welt und wurde von Frauen bemuttert, die sich viel mehr für den Vater als für das Kind interessierten.
»Das Schuljahr ist jetzt zu Ende. Wenn im Herbst das neue beginnt, wird eine Lehrerin nicht mehr da sein. Ngoc Thuy liebte diese Lehrerin sehr. Sie ist traurig, weil sie sie nicht mehr sehen wird. Sie will nicht draußen spielen, sie will nicht mehr mit ihren Puppen spielen, und sie will nie wieder in die Schule gehen. Deshalb war ich froh, als sie letzte Nacht nicht auf ihrer Matte schlief. Die Schule ist schon seit zwei Wochen zu Ende. Für ein Kind kann das eine lange Zeit der Trauer sein.«
Während sie sich unterhielten, kam Thanh herein. »Tori! Du bist wirklich gekommen.«
Er erschien ihr älter als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, und sein Gesicht war von grüblerischer Sorge erfüllt.
»Ngoc Thuy ist noch nicht zu Hause?«
Ihr Schweigen war Antwort genug.
Einen Moment stand er da, und seine Muskeln spielten, als er die Arme verschränkte. Mit niedergeschlagenen Augen kaute er an einem Mundwinkel. »Wir haben an jedem Ort gesucht, der uns nur einfiel. Sie ist nie weiter als bis zur Schule gegangen.«
Er ging zu Tori hinüber. »Du bist gekommen.«
»Nur für den Sommer«, sagte sie und atmete das nach Limonen duftende After Shave ein, das ihr nur zu vertraut war. Acht Jahre schienen plötzlich gar keine so lange Zeit mehr zu sein. »Vielleicht kann ich helfen.«
»Ja, vielleicht«, stimmte Thanh zu.
Tori rückte zur Seite, während er sich einen Stuhl holte und sich neben sie setzte. Lat und Mrs. Diem nickten sich zu. Lat hatte einen verschwörerischen Blick, und Thanhs Mutter sah aus, als ob sie Kupplerin spielen wollte.
Thanh faltete die Hände so fest zusammen, dass seine Knöchel weiß wurden. »Du hast jetzt
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