Wenn Die Nacht Beginnt
lange Zeit nach deiner Familie gesucht, Tori, schon bevor wir uns kennen lernten. Vielleicht gibt es da Dinge, die du besser kennst als ich, obwohl Ngoc Thuys Verschwinden anders zu sein scheint.«
»Du willst nicht die Polizei rufen.«
»Ich bin zu ihnen gegangen.« Er strich sich eine widerspenstige, schwarze Haarsträhne zurück. Sein Haar hatte silbrige Highlights, obwohl er nur zwei Jahre älter war als Tori mit ihren Achtundzwanzig, und er sah um einige Jahre jünger aus. »Sie wissen, wie sie aussieht. Sie werden nach ihr Ausschau halten. Wir wissen nicht einmal sicher, ob sie nicht vielleicht heute ganz früh am Morgen wegging. Sie schickten jemanden in die Schule, um dort nach ihr zu suchen, und ich begleitete sie, aber auch sie glauben, dass sie irgendwo hier im Viertel ist.«
»Sie ist nicht auf dem Dachboden«, sagte seine Mutter. »Sie ist nicht in dem kleinen Raum unter der Treppe, und sie ist auch nicht bei den lachenden Frauen.«
»Die Schule scheint ihr wichtig zu sein«, sagte Tori. »Hatte sie dort irgendwelche Freunde, die nicht hier in der Nähe wohnen?«
»Nein.«
»Vielleicht sollten wir ihre Sachen durchsehen.«
Thanh war bestürzt über den Vorschlag und zögerte, etwas zuzulassen, was ihm als schwer wiegendes Eindringen in die Privatsphäre eines Menschen erschien. Seine Mutter nickte zustimmend.
»Vielleicht ist etwas da«, meinte Tori, »das uns verrät, wo sie hingegangen sein könnte.« Sie fügte nicht hinzu, dass, wenn etwas Spezielles fehlte, es darauf hinweisen könnte, dass das Kind ausgerissen war.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, war Ngoc Thuy bereits mit drei Bussen gefahren. Sie stieg aus dem dritten aus und ging in die Richtung, die ihr der Fahrer gewiesen hatte, und suchte nach dem Schild für den nächsten Bus, den sie nehmen musste. Sie hatte bis zum Morgen auf den dritten Bus gewartet, weil eine Frau, die ebenfalls wartete, sie gefragt hatte, warum sie nach Einbruch der Dunkelheit allein draußen war. Ngoc Thuy fürchtete, die Frau könnte die Polizei auf sie aufmerksam machen, deshalb ging sie in einen nahen Park und versteckte sich dort bis zum Morgen. Jetzt musste sie den Bus nach Sudbury nehmen. Ngoc Thuy zog den gefalteten Zettel wieder aus ihrer Tasche. Miss McDivott. Sie hatte ›Sadury‹ ausgestrichen und in Druckbuchstaben ›Sudbury‹ hingeschrieben, weil es so auf dem Schild stand, aber Sudbury klang nicht so wie das, wo Miss McDivott sagte, dass sie wohne. Sadury klang auch nicht richtig, aber Miss McDivott hatte das Wort an die Tafel geschrieben. Ngoc Thuy hatte bis zur Pause gewartet und es dann abgeschrieben. Sie war sicher, dass es wie Sadury ausgesehen hatte.
Während sie ging, atmete Ngoc Thuy lang und tief ein. Miss McDivott wohnte in der Nähe des Ozeans. Sobald sie Salzwasser riechen würde, wäre sie sicher, dass sie sich nicht verirrt hatte, obwohl Miss McDivott weit weg wohnte. Sie konnte den Ozean noch nicht riechen, aber es würde nicht mehr lange dauern. Sie ging in ein kleines Geschäft und kaufte sich zwei Devil Dogs zum Frühstück. Ihr Magen knurrte, als sie auf die weiße Creme in dem unglasierten Schokoladenkuchen sah. Ihre Großmutter würde es nicht erlauben, dass sie so früh am Morgen etwas Süßes aß, aber wenn sie auswärts übernachtete bei einer der lachenden Frauen, dann bat sie immer darum. Sie gaben ihr das, worum sie bat, sogar Geld, und sie glaubten, sie gebe es aus. Sie wussten nicht, dass sie es sparte.
Ngoc Thuy blieb auf Abstand zu den anderen Leuten in dem Geschäft und ging nur zu dem Mann mit der braunen Schürze, der genau wie ihr Vater Lebensmittel verkaufte. Sie gab ihm ihr Geld. Als er sie anlächelte, sagte sie zu ihm: »Sie mir sagen bitte, wo Bus nach Sudbury geht.« Als er sie nicht verstand, zeigte sie ihm das Wort, das in Druckbuchstaben auf dem Zettel stand. Er führte sie nach draußen und zeigte ihr die Richtung.
Es war heiß, als sie neben dem Mast mit dem Bushaltestellenschild in der Sonne wartete. Sie hatte keine Kleider zum Wechseln mitgebracht, weil sie nicht gedacht hatte, dass es so lange dauern würde, und jetzt hatte ihr Kleid Flecken von dem Gras, in dem sie gesessen hatte, und von der Orangenlimonade, die sie verschüttet hatte. Vielleicht würde sich Miss McDivott so sehr über Besuch freuen, dass sie es gar nicht bemerkte. Ngoc Thuy hatte mitbekommen, wie die anderen flüsternd von Miss McDivott sprachen und still wurden, wenn ein Kind in die Nähe kam, und es war ihr klar, dass
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