Wenn Die Nacht Beginnt
Futterhäuschen auf Pfählen oder vielen Rosenbüschen. Vielleicht gab es ja einen Ort, der Saderly hieß. Vielleicht war das hier nicht die richtige Ortschaft. Als ihre Beine müde wurden, setzte sie sich hin und sah eine Weile den Möwen zu. Vielleicht war das nicht der richtige Strandabschnitt. Niemand war hier. Vielleicht waren all die Häuser leer. Sie wickelte ein Karamellbonbon aus und lutschte es. Dann raffte sie sich wieder auf und ging weiter.
Als erstes entdeckte sie das rote Vogelfutterhäuschen, dann ein gelbes. Sie konnte nur den obersten Teil des Hauses sehen. Auf dem Dach gab es eine Stange mit einem Pfeil und einem Hahn, ganz wie Miss McDivott gesagt hatte. Ngoc Thuy rannte über die Straße und schlüpfte zwischen den Büschen hindurch zum Haus hinauf. Es gab so viele Vogelfutterhäuschen. Und ein kleines, weißes Haus. Als sie eine Lichtung beim Holzzaun erreichte, sah sie die Rosen – Hunderte rosaroter und gelber Rosen.
Ngoc Thuy rannte zu den Stufen. »Miss McDivott! Miss McDivott!«
Keine Antwort. Die Fliegengittertür war geschlossen, aber die andere Tür nicht. Sie ging die Treppenstufen hinauf und schaute ins Haus.
»Miss McDivott!« Sie stieß die Tür auf, blieb stehen und starrte auf Miss McDivott, die auf dem Boden lag. Als sie die Augen öffnete, ging Ngoc Thuy auf Zehenspitzen zu ihr.
»Sie schlafen nicht. Sie sind noch hier.«
Nur Miss McDivotts Augen bewegten sich.
Ngoc Thuy setzte sich neben sie. »Sie sind krank, nicht wahr? Meine Mami war auch krank, aber als ich sie besuchte, waren ihre Augen zu. Sie konnte auch nicht sprechen, aber sie schlief in diesem kleinen Bett mit einem glänzenden weißen Kopfkissen und einer Decke aus Holz. Ich konnte sie nicht aufwecken. Aber Sie sind wach.« Sie wartete darauf, dass Miss McDivott sprechen würde, aber sie tat es nicht. Sie bewegte sich auch nicht. »Wenn ich bei Ihnen sitze, bleiben Sie dann wach? Ich will nicht, dass Sie mich verlassen. Ich bleibe hier, das verspreche ich. Schauen Sie, ich habe Ihnen Bonbons mitgebracht.«
Miss McDivott konnte die Bonbons nicht essen. Sie brauchte einen Doktor, aber wenn man zum Doktor ging, kam man manchmal nicht mehr nach Hause.
»Ich rufe jetzt die Notfallnummer an«, sagte Ngoc Thuy. »Die kommen dann und legen Sie in einen Krankenwagen und fahren Sie ins Krankenhaus, und vielleicht kommen Sie nie mehr zurück. Aber wenn Sie zurückkommen, dann schenke ich Ihnen diese Bonbons und lerne Schreibschrift schreiben und bringe meine kleinen Püppchen mit, damit sie Sie sehen können.«
Miss McDivott blinzelte.
»Ich möchte wirklich, dass Sie meine Figürchen sehen. Ich habe viele davon. Und diese Bonbons sind wirklich gut, sie werden Ihnen schmecken, wenn es Ihnen besser geht. Also, kommen Sie bitte wieder nach Hause, ja?«
Ngoc Thuy ging zum Telefon.
Es war nach fünf, als Tori und Thanh Sudbury erreichten. Tori fuhr einen engen, kurvenreichen Feldweg entlang, bis sie den Briefkasten mit dem Kardinalsvogel darauf erreichte. Ein Polizeiwagen parkte am Straßenrand. Heute würde sie Miss McDivott nicht kennen lernen, aber vielleicht morgen. Thanh nahm ihren Arm, als sie den Weg zu dem Häuschen hinaufgingen. Auf den Stufen saß ein kleines Mädchen.
»Ngoc Thuy!« Thanh eilte zu ihr und nahm sie in die Arme. Das kleine Mädchen hielt sich an ihm fest, und Thanh saß da, wiegte sie und drückte sie an sich und murmelte etwas auf Französisch. Tori blieb am Fuß der Treppe stehen. Ngoc Thuy hatte Thanhs breites Gesicht und sein glattes Haar, aber ihre Gesichtszüge waren nicht asiatisch, ihr Haar und ihre Augen waren braun. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Mrs. Diem die Mutter des Kindes nicht gemocht hatte.
Das letzte Mal, als Tori Thanh gesehen hatte, vor acht Jahren, war es genauso heiß, und die Sonne genauso strahlend gewesen, und Tauben waren über den Bürgersteig bei der South Station stolziert. Sie hatte den Zug nach Connecticut genommen. Thanh hatte Verwandte in Frankreich besucht. Ngoc Thuys Mutter muss Französin gewesen sein. Wertvolle Tugend. Lat und Thanh und die meisten Vietnamesen, die sie kannte, maßen ihren Namen anscheinend keine allzu große Bedeutung bei, aber dieses Kind schien tatsächlich besonders wertvoll zu sein.
Dass sie allein loszog, um ihre Lehrerin zu finden, nur mit dem Namen eines Ortes, den es gar nicht gab, überraschte Tori überhaupt nicht. Sie erinnerte sich daran, wie sie nach New Mexico davongelaufen war, als sie sechs Jahre alt gewesen
Weitere Kostenlose Bücher