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Wenn Die Nacht Beginnt

Wenn Die Nacht Beginnt

Titel: Wenn Die Nacht Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
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nicht vorgehabt hätte, wieder zu kommen. Thanh dachte, sie könne vielleicht helfen, weil sie etwas Wissen oder Erfahrung gewonnen hatte durch ihre Suche nach ihrer eigenen Familie während der letzten zwölf Sommer. Tori meinte, sie könne vielleicht helfen, weil sie als kleines Mädchen so oft von Pflegefamilien weggelaufen war. Von ihrem richtigen Zuhause war sie nie ausgerissen, aber sie konnte sich nicht einmal an ein eigenes Zuhause erinnern. Sie hatte vage Erinnerungen an eine Mutter und Geschwister, von denen sie nicht einmal sicher sein konnte, ob sie real waren. Ihr Herz sagte, sie waren real, die Logik sagte etwas anderes.
    »Ist sie schon einmal ein paar Tage lang weggeblieben?« Alles in diesem Zimmer deutete darauf hin, dass das Kind, das hier lebte, vorhatte, zurückzukommen. Und Tori wusste auch, dass diese Gemeinde so eng miteinander verbunden war, dass es viele Menschen gab, die für das Kind Tanten und Großmütter waren.
    »Nur bei den lachenden Frauen.«
    »Lachende Frauen?«
    »So nennt sie sie. Weißt du, sie kommen und lächeln und lachen und bringen Essen und …«
    »… flirten«, ergänzte Tori.
    »Sie sind freundlich.«
    »Gibt es noch andere lachende Frauen, von denen Ngoc Thuy weiß, die aber diese Frauen nicht kennen?«
    Als Thanh nicht antwortete, setzte Tori sich auf die Fersen zurück und sah zu ihm auf. »Nun?«
    »Ist das eine persönliche oder eine sachliche Frage?«
    Tori zögerte. »Beides.« Sie empfand es als schwierig, nicht völlig direkt zu sein.
    »Meine Frau hatte Krebs. Sie brauchte sechs Monate, um zu sterben. Die letzten zwei Monate war sie im Krankenhaus, und ich war so viel ich konnte bei ihr. Seitdem war ich mit keiner Frau zusammen.«
    Tori sah die Schulsachen des Mädchens durch. Buchstaben und Zahlen marschierten zur Hälfte über liniertes Papier, dann, gegen Ende der Zeile, wurden sie schief, als ob das Kind es eilig hatte, fertig zu werden. War sie ein impulsives Kind oder schnell gelangweilt? Oder war sie hartnäckig und strebsam? Tori fragte nicht. Sie würde vorerst eigene Eindrücke sammeln. Die Striche und Kreise waren genau geformt, selbst wenn sie sich nach unten neigten. Ein Kind, das beherrscht war, schloss Tori, oder das es zumindest sein wollte, selbst wenn es Eile hatte.
    Als sie die Buntstiftzeichnungen ansah, taten ihr die Augen weh. Es waren Variationen einer sehr kleinen Person, die vor einer Tür stand und hindurch sah auf eine sehr große Person in einem großen Bett, die mit einer mehrfarbigen Decke zugedeckt war. Die Decke war in Karos aufgeteilt, und jedes war mit einer dicken Buntstiftschicht ausgefüllt. Es waren achtundzwanzig Zeichnungen. Als Tori sich durch den Stapel hindurcharbeitete bis zum letzten Blatt, wurde die Person im Bett kleiner und war am Ende sogar kleiner als das Kind an der Tür.
    »Besuchte Ngoc Thuy ihre Mutter im Krankenhaus?«
    »Ja, bis sie zu starke Schmerzen hatte und ständig unter Beruhigungsmitteln stand. Ngoc Thuy weinte, weil sie sie sehen wollte, aber es hätte sie zu sehr aufgeregt. Ihre Mutter sah völlig verändert und gar nicht wie sie selbst aus.«
    Tori konnte sich nicht vorstellen, wie es für ein kleines Mädchen gewesen sein mag, zu wissen, dass ihre Mutter krank war, dass sie weggebracht und sie sie nie wieder sehen würde. Sie kannte allerdings mit unerschütterlicher Klarheit die Leere, die von diesem Verlust hervorgerufen wurde.
    »Und sie hatte diese Lehrerin gern.«
    »Diesen Frühling holte ich sie eines Tages von der Schule ab, und sie kam mir entgegengehüpft. Sie lachte und hielt Miss McDivotts Hand. Sie sah wieder wie ein kleines Mädchen aus und nicht wie meine alte Frau mit dem traurigen Gesicht.«
    Tori legte die Papiere wieder in die Truhe. »Ich glaube, sie ist losgezogen, um ihre Lehrerin zu finden.« Sie versuchte nicht, ihm zu erklären, was der Abschluss einer Beziehung bedeutet, oder das Bedürfnis, sich endgültig zu verabschieden.
    Ngoc Thuy klemmte sich ihre Sandalen unter den Arm und lief über einen schmalen Streifen Strand, den riesige Felsen vom Ozean trennten. Zwischen den Zehen spürte sie den warmen Sand. Es gab keinen Schatten, und es war heiß, aber wenn die Wellen gegen die Felsen klatschten, wurde sie vom Wasser leicht besprüht.
    Während sie so dahinlief, sah Ngoc Thuy an den Häusern hinauf. Einige waren groß, die meisten waren klein. Wenn Bäume davorstanden, konnte sie nur die Dächer sehen. Sie sah kein Haus mit Vogelhäuschen in den Bäumen oder

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