Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
danke dir.«
Jaris Traumwelt hatte sich verändert. Nele sah es sofort, kaum, dass sie die Tür geöffnet hatte. Das trübe Licht, das den Treppenschacht heraufgedrungen war, war verschwunden. Jenseits des Absatzes, dort wo die Stufen begannen, war es stockfinster, das Licht wie mit einer Schere abgeschnitten. Nele fröstelte. War da überhaupt noch eine Treppe?
Eine kleine Ewigkeit, wie ihr schien, stand sie auf der Schwelle und konnte sich nicht dazu entschließen, sie zu überschreiten. Irgendetwas war hier völlig anders als beim letzten Mal, und sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte.
Doch dann hörte sie plötzlich von weit her eine Stimme.
»Nele!«
Nele fuhr zusammen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils waren alle Zweifel wie weggeblasen. Der Ruf kam von unten, aus der Dunkelheit, die die Treppe verschluckt hatte. Und sie kannte diese Stimme! Verzerrt und ein wenig blechern zwar, aber es war kein Zweifel möglich.
»Jari?« Vor Erleichterung brachte sie nur ein Flüstern heraus.
»Nele!«, ertönte der Ruf noch einmal. »Bist du das?«
Vorsichtig trat Nele an den Rand des Lichtscheins, wo die Stufen beginnen mussten. »Ich bin hier oben!«, rief sie in den Treppenschacht. »Warte, ich komme zu dir!«
Hinter ihr flackerte das Licht auf der anderen Seite der Tür. Und als sie über die Schulter zurücksah, erkannte Nele, dass die Schatten nun auch auf die Schwelle zukrochen. Bald würde sie auch den Ausgang nicht mehr sehen können.
»Nele!«, erklang nun zum dritten Mal Jaris Stimme. Diesmal deutlich drängender als zuvor. »Hilf mir!«
Entschlossen tastete Nele mit dem Fuß nach der ersten Stufe und machte sich an den Abstieg. Es war wirklich stockfinster. Schon nach dem dritten Schritt konnte sie die Hand nicht mehr vor Augen sehen.
»Ich komme!«, rief sie noch einmal in die Schwärze. »Warte auf mich!«
Der Weg die Treppe hinunter erschien ihr quälend lang. Stufe um Stufe um Stufe schlich sie voran– vor ihr, hinter ihr und zu allen Seiten nichts als Dunkelheit. Zu Anfang versuchte Nele noch, die Stufen zu zählen. Aber schon bald gab sie es auf und konzentrierte sich lieber darauf, auf dem unebenen Untergrund nicht zu stolpern und diese unendlich scheinende Treppe nicht hinunterzufallen. Musste sie nicht bald wenigstens zum ersten Absatz und zur ersten Luke kommen? Sie hatte so fest damit gerechnet, heute die Ebene aus Jaris Traum zu betreten und dort nach ihm zu suchen. Aber bisher machte es nicht den Anschein, als wäre dieser Abstieg überhaupt jemals zu Ende. Oder war sie vielleicht schon vorbeigelaufen und hatte es nur nicht bemerkt? Je weiter Nele kam, desto mehr hatte sie das Gefühl, die Finsternis drücke sie zu Boden. Auch Jaris Stimme war nun schon lange verstummt, und Nele fühlte sich allmählich sehr verloren. Ob sie umkehren sollte? Sie biss sich auf die Zunge. Nein, das kam nicht infrage! Auch wenn sie allmählich glaubte, bald ersticken zu müssen unter dieser Decke aus Schwärze, die immer schwerer und schwerer wurde. Ob Seth sie noch sehen konnte? Ob Jari sie sehen konnte? War sie überhaupt noch auf dem richtigen Weg?
Mühsam versuchte Nele, ihren Atem ruhig zu halten. Sie konnte sich hier nicht verlaufen, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Seth war dort draußen, er passte auf sie auf, das hatte er gesagt. Er würde sie notfalls wecken. Aber wenn all das hier nun eine Folge der neuen Umstände war? Wenn er sie doch nicht mehr erreichen konnte?
Wie von selbst wurden Neles Schritte schneller. Es war ihr jetzt egal, ob sie hinfallen würde. Sie musste hier raus!
Trotzdem lief sie und lief und lief, ohne dass sich etwas veränderte. Inzwischen wusste sie nicht einmal mehr, ob sie abwärts ging oder aufwärts, oder geradeaus. Und irgendwann bemerkte sie, dass ihr Tränen über die Wangen rannen.
»Hilfe!«, rief sie, aber ihre Stimme kam nicht weit in der zähflüssigen Dunkelheit. »Jari, wo bist du?«
Verzweifelt griff sie um sich. Es musste doch einen Weg hier heraus geben, irgendwie…
Und in diesem Augenblick kamen Seths Worte ihr wieder in den Sinn.
»Du kannst jederzeit einen Durchgang zurück in deine eigene Traumwelt erschaffen. Genau, wie du es damals getan hast. Das weißt du doch noch?«
Einen Durchgang erschaffen… das war es! Das konnte sie versuchen! Ihre Finger stießen gegen etwas und griffen zu. Ein Knauf, wie von einem alten Fenster oder einer Schranktür. Neles Knie begannen vor Erleichterung zu zittern. Mit aller Kraft
Weitere Kostenlose Bücher