Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
ganze Zeit auf der anderen Seite des Nachtglases. Und das wusste Seth ganz genau! Er hat nicht das geringste Interesse daran, Jari zu befreien, so viel ist sicher.«
Nele hatte das Gefühl, von innen heraus zu Eis zu gefrieren. Das konnte doch nicht sein! Es gab einiges, was an Seth fragwürdig war. Aber hatte er sie wirklich die ganze Zeit so in die Irre geführt? Er hatte gesagt, er wolle ihr helfen, und ja, sie hatte ihm geglaubt! Heiße, wütende Tränen stiegen Nele in die Augen. Wenn das wirklich stimmte, dann war Seth nichts als ein verlogener Mistkerl!
Tora hatte sich inzwischen wieder zurückgelehnt. Ihr Blick aber war weiterhin starr auf Nele gerichtet– oder vielmehr auf die Kamera. »Und noch eins steht fest: Von dort, wo du jetzt bist, wirst du deinem Freund nicht helfen können. Und wenn Seth dich noch lange davon abhält, mit uns zusammenzuarbeiten, ist es irgendwann zu spät. Dann wird der Junge zu einem Traum und das Nachtglas wird brechen. Seth ist dann wieder frei– aber eure Menschenwelt wird es dann nicht mehr geben.«
Nele begann zu zittern. Am liebsten hätte sie angefangen, zu heulen. Das war alles noch so viel schlimmer, als sie gedacht hatte!
Jari trat jetzt neben Tora und schob sie beiseite. »Wir schaffen das schon, Nele«, sagte er und lächelte, als wollte er ihr Mut machen und die Worte der Katze abmildern. »Tora hat mit ihrer Göttin gesprochen. Sie weiß einen Weg durch das Nachtglas, den Seth wahrscheinlich nicht kennt«, sagte Jari inzwischen. »Einen, den nur Klarträumer benutzen können. Nicht einmal die Katzen können dort hinein. Das Problem ist nur, du kannst es nicht aus meiner Traumkammer heraus tun. Ich bin… zu instabil.« Er sah zu Tora, als wolle er sich ihrer Zustimmung versichern. Als Tora nickte, fuhr er fort. »Kannst du in einen anderen Traum gehen? Vielleicht in den deiner Mutter, oder du bittest Charlotte oder Aylin um Hilfe… Dir wird etwas einfallen, nicht wahr? Ich bin mir sicher.« Jari lächelte schief. »Wenn du drin bist– klopf an einen Spiegel. Und hab keine Angst, ja? Ich weiß, das muss furchtbar für dich sein. Aber Tora wird dir helfen, den Weg zu finden. Und dann treffen wir uns hier.«
Noch einmal sah er zu Tora, die erneut nickte, ehe sie aufstand und Jari vielsagend auf die Schulter klopfte.
Jari neigte sich ein Stück nach vorn. »Also, ich muss jetzt Schluss machen. Und du musst zurück in die Realität. So, wie es im Moment aussieht, ist es gefährlich, wenn du zu lange dort unten bleibst. Der Weg ist ganz einfach, ich habe dir einen eingerichtet. Unter dem Tisch ist eine Luke, die direkt zum obersten Treppenabsatz führt. Von dort findest du zurück. Und denk daran, Seth auf keinen Fall zu sagen, was du hier gehört hast! Ich hoffe, wir sehen uns bald.« Er streckte den Arm aus und griff nach dem Knopf, um die Kamera auszuschalten. Im letzten Moment aber zögerte er.
»Danke, dass du das alles tust, Nele«, sagte er leise, und es schien, als sehe er nun nicht mehr nur in die Kamera, sondern direkt in Neles Augen. »Danke, dass du da bist. Ich warte auf dich.«
Ein Klicken ertönte. Dann wurde das Bild schwarz.
Eine ganze Weile tat Nele gar nichts. Sie stand einfach nur da, starrte auf die erloschenen Monitore und wusste nicht, was sie denken sollte. Sie hatte Jari gefunden und doch wieder nicht. Sie hatte Dinge gehört, die unglaublich wichtig waren und die sie trotzdem lieber nicht gewusst hätte, weil sie sie bis ins Innerste erschütterten. Und sie hatte eine Aufgabe erhalten, die selbst ihren Weg durch die Dunkelheit bis hierher wie einen Spaziergang wirken ließen.
Klopf an einen Spiegel, hatte Jari gesagt.
Und Nele ahnte, worauf sie sich da einließ. Nach all seinen Andeutungen konnte es gar nicht anders sein. Sie würde an einen Ort gehen müssen, den sie nie wieder hatte betreten wollen. Einen Ort, den sie mehr fürchtete als jeden Traum, in dem sie jemals gewesen war.
Das Spiegellabyrinth.
Nein, sie wollte da nicht hin. Allein der Gedanke daran löste heiß blubbernde Panik in ihr aus.
Aber hatte sie denn eine Wahl? Nein, die hatte sie nicht. Sie musste Jari helfen.
Energisch riss Nele sich aus ihrer Starre. Zu jammern half ja nichts. Und Angst zu haben schon gar nicht.
Wenigstens, dachte sie mit einem leisen Seufzer, als sie auf zittrige Knie ging und unter den Tisch spähte, wo die Luke war, von der Jari gesprochen hatte, würde der Rückweg leicht zu begehen sein.
Nele verschlief den ganzen Rest des Tages und
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